«Zwangsheirat» ist ein sehr emotionales Thema, das immer wieder die Gemüter erhitzt. Die der Politiker, die der Medien und die der Leser. Eine junge Frau, die gegen ihren Willen mit einem Mann verheiratet wird, wird ihres Rechts auf Selbstbestimmung beraubt. Ein Menschenrecht wird mit Füssen getreten – und oft mit den «traditionellen» kulturellen oder religiösen Praktiken gewisser Migrantengruppen erklärt.
Doch das Feld ist gross und viele sozialwissenschaftliche Fragen bezüglich Zwangsheiraten sind noch unbeantwortet. Es gibt nur sehr wenig empirisch fundierte Kenntnisse darüber. «Die Thematik stiess auf ein mediales und politisches Echo, bevor überhaupt sozialwissenschaftliche Reflexionen dazu vorlagen» – heisst es in der von der Universität Neuenburg und vom Bundesamt für Migration 2012 herausgegebenen Studie.
Natalie Trummer, die Geschäftsleiterin von Terre des Femmes Schweiz arbeitet täglich mit Frauen zusammen, die einem ehelichen Zwang unterworfen sind.
Von wie vielen Opfern von Zwangsheirat kann in der Schweiz ausgegangen werden?
Natalie Trummer: Zahlen sind sehr schwierig zu ermitteln, weil das Thema stark tabuisiert und damit auch die Dunkelziffer entsprechend hoch ist. Bisher gibt es nur diese eine Studie der Universität Neuenburg, die sich eingängig mit dem Thema beschäftigt hat. Darin wird von mindestens 700 bekannten Fällen von Zwangsverheiratungen und Zwangsehen im Jahr ausgegangen, aber das ist nur eine Schätzung.
Wer sind die Betroffenen?
Zu uns kommen vor allem junge Frauen, die in einem patriarchalen Umfeld aufgewachsen sind. Viele von ihnen sind Anfang 20, also in einem Alter, in dem sie traditionsgemäss heiraten sollten. Das sind aber nicht nur Frauen muslimischer Herkunft, auch im Hinduismus, in christlichen und jüdischen Kreisen gibt es solche Formen von partnerschaftlichem Zwang.
Darunter fallen dann auch arrangierte Ehen?
Ja. Allerdings ist eine arrangierte Ehe von einer Zwangsehe zu unterscheiden. Bei einer arrangierten Heirat kann man «nein» sagen. Die Grenze ist natürlich fliessend und hängt auch stark von den Betroffenen ab. Was für eine Person Zwang ist, ist es für eine andere Person nicht. Zu uns kommen Menschen, die sich in irgendeiner Form in ihrer Selbstbestimmung beschnitten fühlen. Das kann der Zwang sein, Kinder kriegen zu müssen, in der bestehenden Ehe zu bleiben oder eben eine gewisse Person zu heiraten. Wir kümmern uns dann um den spezifischen Fall.
Wie sieht die rechtliche Lage in der Schweiz aus?
Am 1. Juli 2013 trat in der Schweiz das Bundesgesetz gegen Zwangsheirat in Kraft, das für Personen, die jemanden zu einer Heirat zwingen, eine Strafe von bis zu fünf Jahren Haft vorsieht. Eine solche Ehe kann dann als ungültig erklärt, also annulliert werden, ohne dass die Betreffenden danach den Zivilstand «geschieden» tragen. Sie sind dann weiterhin «ledig». Das ist eine wichtige Anerkennung des Unrechts und der Menschenrechtsverletzung, die der betroffenen Person angetan worden ist.
Wie sollte man reagieren, wenn der Verdacht auf einen solchen Ehezwang aufkommt?
Zwangsheirat ist ein Offizialdelikt und muss von Amts wegen verfolgt werden. Aber oftmals ist es schwierig, denn man weiss nicht genau, wie stark die Person kontrolliert wird und ob nicht auch noch Gewalt im Spiel ist. Daher sollte man nicht auf eigene Faust handeln, sondern eine spezialisierte Beratungsstelle kontaktieren. Sie finden auch auf unserer Website Unterstützung oder bei zwangsheirat.ch, die Anlaufstelle von Anu Sivaganesan, mit der wir eng zusammenarbeiten.
Was wird in der Schweiz gegen Zwangsheiraten unternommen und was sollte noch unternommen werden?
Neben dem neuen Gesetz gibt es ein Bundesprogramm zur Bekämpfung von Zwangsheiraten, dessen Ziel es ist, bundesweit Massnahmen zu ergreifen, um diese Menschenrechtsverletzung zu verhindern und Betroffene zu unterstützen. Aber man müsste die Präventionsarbeit vertiefen, um die Menschen mehr auf das Thema zu sensibilisieren. Oft sind wir auch mit einer Akut-Situation konfrontiert, in der wir dann Krisenintervention betreiben. Aber danach? Es gibt keine «Täterarbeit», keine Auseinandersetzung mit dem Problem innerhalb der Familie der Betroffenen. So hat die Opferbetreuung keine dauerhafte Wirkung.
Wie kommen die Betroffenen zu Terre des Femmes?
Viel läuft wohl über Mund-zu-Mund-Propaganda. Wir verteilen auch Flyer. Manchmal ruft uns die Polizei oder eine Opferberatungsstelle, die einen solchen Fall hat und nicht recht weiter weiss. Es ist auch schon vorgekommen, dass eine unserer eigenen Mitglieder nicht mehr von den Ferien zurückgekehrt ist, weil sie dort zwangsverheiratet wurde.