Frau Hintze, die Massentierhaltungsinitiative, über die die Schweizer Stimmbevölkerung im September abstimmt, fordert ein bedürfnisgerechtes Leben für Tiere. Haben diese die gleichen Bedürfnisse wie wir Menschen?
Das ist die falsche Frage. Tiere sind keine Menschen. Die Bedürfnisse von Menschen und Tieren gleichzusetzen, finde ich nicht angebracht. Aber nicht, weil die Tiere weniger Bedürfnisse haben.
Sondern?
Weil sie andere Bedürfnisse haben als wir Menschen. Es geht nicht nur darum, dass die Tiere genügend Platz haben und gesund sind. Sie haben auch soziale Bedürfnisse, wollen spielen oder können sich langweilen. Und nicht alle Tierarten wollen das Gleiche. Schweine haben beispielsweise andere Bedürfnisse als Hühner, Pferde oder Schafe. Und innerhalb einer Tierart gibt es ganz unterschiedliche Individuen mit ganz verschiedenen Bedürfnissen.
Bleiben wir gleich bei den Schweinen. Sie untersuchen aktuell, ob Schweinen in einem kargen Stall langweilig wird und sie darunter leiden. Und, können sie sich langweilen?
Zuerst noch etwas zur Langeweile: Es geht nicht um kurzweilige Langeweile. Zum Beispiel dann, wenn ich am Sonntagabend nicht so genau weiss, was machen. Wir untersuchen chronische Langeweile, die beim Menschen nachweislich zu Depressionen, Alkoholmissbrauch oder Suizidgedanken führen kann. Noch können wir aber noch nicht viel dazu sagen, der Forschungsprozess mit den Schweinen läuft noch.
Wie muss man sich diese Forschung vorstellen?
Wir arbeiten mit 64 Schweinen, die wir ab Geburt über mehrere Monate begleiten und mit ihnen verschiedene Versuche durchführen. Die Schweine sind in zwei Gruppen aufgeteilt. Eine Gruppe wird in einer Umgebung ohne viele äussere Reize gehalten. Die zweite Gruppe hat Stroh und Kisten mit Erde zum Spielen, die wir regelmässig auswechseln.
Wie sehen die Versuche aus?
Wir möchten herausfinden, ob und wie sich chronisch gelangweilte Tiere von nicht gelangweilten Tieren unterscheiden und was diese Langeweile für das Wohlergehen der Tiere bedeutet. Ein Symptom der Langweile wäre zum Beispiel ...
... wenn die Zeit nicht vergeht.
Genau. Wenn man Spass hat, vergeht sie wie im Flug. Wir machen mit den Schweinen einen Zeitwahrnehmungstest. In einem ersten Schritt lernen sie, dass die Länge eines Tones verbunden mit einer Handlung etwas auslöst. Hören sie einen langen Ton, müssen sie nach rechts gehen und erhalten ein Leckerli. Bei einem kurzen Ton müssen sie für das Leckerli nach links gehen. Nach etwa vier Wochen haben die Schweine gelernt, bei welcher Tonlänge sie auf welche Seite gehen müssen. Danach können wir mit dem eigentlichen Test beginnen.
Das war er noch gar nicht?
Nein. Denn es geht uns ja darum herauszufinden, wie die Schweine die Zeit wahrnehmen. Sobald sie die kurzen von den langen Tönen unterscheiden können, spielen wir einen mittellangen Ton ab. Dann schauen wir, wie das Schwein reagiert. Und ob die Schweine in den verschiedenen Gruppen unterschiedlich darauf reagieren.
Also ob jene, die in einem kahlen Stall liegen und keine Beschäftigung haben, den Ton als länger empfinden?
Zum Beispiel.
Sie haben gesagt, die Forschung läuft noch. Können Sie uns trotzdem etwas zum Verhalten der Schweine sagen?
Die Tiere sind unglaublich intelligent. Es gibt nicht einfach ‹das Schwein›. Alle haben sie unterschiedliche Persönlichkeiten. Das Projekt läuft seit Februar und die Zusammenarbeit mit den Schweinen war sehr intensiv. Darum war es am Schluss auch sehr hart, sich von ihnen zu trennen.
Wieso mussten Sie sich von den Tieren trennen?
Weil sie geschlachtet wurden. Wir haben mit Schweinen von einem landwirtschaftlichen Forschungsbetrieb gearbeitet und wussten, dass sie geschlachtet werden. Aber das fiel mir viel schwerer, als ich gedacht hätte. Weil wir so intensiv mit den Tieren zusammengearbeitet haben, weil sie so intelligent und individuell sind, fühlte es sich so an, als wenn wir mit Hunden gearbeitet hätten. Und auf die Idee, 64 Hunde zu schlachten, kommt ja auch niemand.
Schweine sind nicht die einzigen Tiere, die sie untersucht haben. Sie wollten auch herausfinden, ob die Augenfalten bei Pferden etwas über ihren Gemütszustand aussagen. Wie kam es dazu?
(schmunzelt) In der Pferdeszene munkelt man, dass die Pferde zufriedener sind, wenn sie weniger Falten um die Augen haben. Das wollten wir uns einmal systematisch anschauen. Dazu haben wir die Pferde in verschiedene positive und negative Situationen gebracht und währenddessen ihre Augenpartie fotografiert.
Was war das Resultat?
Das war leider nicht so eindeutig, wie wir uns das gewünscht hätten. Aber wir haben einen Effekt festgestellt. Der Winkel zwischen dem Auge und der obersten Augenfalte war geringer in positiven Situationen. Also beispielsweise dann, wenn wir dem Pferd ein Leckerli gegeben haben. Bei negativen Situationen war der Winkel grösser. Beispielsweise fühlten sich die Pferde durch einen Plastiksack an einem Stecken gestresst. Zudem gibt es auch beim Menschen ähnliche Studien. Diese haben ebenfalls gezeigt, dass die Muskeln über den Augen bei Personen mit Depressionen stärker kontrahieren.
Sie arbeiten mit Schweinen, Pferden und Rindern. Das sind alles Nutztiere. Was ist das Ziel Ihrer Forschung?
Ich will den Menschen zeigen, wie besonders Tiere sind. Gerade wenn ich von meiner aktuellen Forschung erzähle, reagieren viele erstaunt. Sie haben sich noch nie darüber Gedanken gemacht, ob Schweine Langeweile empfinden könnten. Wir sehen die landwirtschaftlichen Tiere praktisch nie. Gerade Schweine sind vor der Öffentlichkeit meist abgeschirmt. Ich will ein Bewusstsein für die Tiere schaffen. Und ich will aufzeigen, dass es sich bei jedem einzelnen Tier um ein Individuum handelt. Es sind fühlende Wesen mit vielen verschiedenen Bedürfnissen. Dazu braucht es die Grundlagenforschung, wie ich sie mache. Denn wir können nicht einfach behaupten, dass Schweinen langweilig wird. Wir müssen es beweisen. Mit diesen Beweisen haben wir dann auch mehr Möglichkeiten, die Gesetzgebung zu verändern.
Wenn Sie ganz allein die Gesetzgebung beeinflussen könnten, würden Sie die Massentierhaltung verbieten?
Ich bin dagegen, die Haltung landwirtschaftlich genutzter Tiere grundsätzlich abzuschaffen. Aber eine massive Reduktion der Nutztierschaft wäre wünschenswert.
Warum?
Einerseits aus Tierschutzsicht. Da kommen wieder die Bedürfnisse zum Zuge, über die wir bereits gesprochen haben. Andererseits aber auch wegen des Klimawandels. Ein grosser Anteil der weltweit durch Menschen verursachten Treibhausgasemissionen kommen aus der Haltung und Verarbeitung von Tieren.
Gerade in der Schweiz oder in Österreich gibt es aber Gegenden in den Bergen, wo nichts angebaut werden kann.
Dort ergibt die landwirtschaftliche Nutzung von Tieren durchaus Sinn. Denn gerade in den Alpen, in denen kein Getreide angebaut werden kann, kann das Gras mithilfe von Kühen in Protein umgewandelt und für die menschliche Ernährung gebraucht werden. Das sind oft nachhaltige Systeme.
Ernähren Sie sich vegan?
Ich bin seit ich sechs bin Vegetarierin. Und mittlerweile esse ich fast vegan. Ich bin aber nicht super strikt. Wir haben beispielsweise in der Nachbarschaft frei lebende Hühner, von denen esse ich gelegentlich Eier.
Zurück zu den Schweinen. Wann erwarten Sie erste Forschungsergebnisse?
Ich denke, das wird Ende nächstes Jahr der Fall sein.
Und danach?
Zur Langeweile sind noch weitere Projekte geplant. Und dann würde ich gerne noch zu Flow bei Tieren forschen.
Das müssen Sie mir genauer erklären.
Flow wurde bisher nur in der Humanpsychologie erforscht. Es ist ein Zustand, der eintritt, wenn meine Fähigkeiten ganz genau mit den Herausforderungen der Aufgabe zusammenpassen. Das kann man beispielsweise bei Tänzern oder Klavierspielerinnen beobachten, wenn sie alles um sich herum vergessen und ganz in ihrer Aufgabe aufgehen. Ich möchte herausfinden, ob sich dieser Zustand auch bei Tieren nachweisen lässt und was es braucht, damit auch Tiere Flow erleben können.