Schweiz
Interview

Asylverfahren nicht mehr in der Schweiz? SEM-Chefin im Interview

Interview

SEM-Chefin: «Der Grund für die Wohnungs-Kündigungen waren nicht die Flüchtlinge»

Christine Schraner Burgener erklärt, weshalb es aus ihrer Sicht das Beste wäre, Asylverfahren nicht mehr in der Schweiz durchzuführen. Und die Staatssekretärin für Migration äussert sich zum Fall Windisch.
23.03.2023, 10:3323.03.2023, 10:45
Kari Kälin und Reto Wattenhofer / ch media
Mehr «Schweiz»
Staatssekretaerin Christine Schraner Burgener, Direktorin des Staatssekretariats fuer Migration (SEM), spricht zu den Medien bei einem Besuch einer ukrainische Familie im Kinderdorf Pestalozzi in Trog ...
Christine Schraner Burgener.Bild: keystone

Christine Schraner Burgener, seit Sie das Staatssekretariat für Migration leiten, herrscht Ausnahmezustand. Wären Sie manchmal lieber wieder Botschafterin?
Nein, ich habe sehr hektische 30 Jahre in der Diplomatie erlebt. Ich war von 2009 bis 2015 in Thailand während den grössten Unruhen. Wir mussten zeitweise sogar die Botschaft schliessen. Unterschlupf fand ich in einem kleinen Büro der Schweizer Firma Holcim.​

Sie sind also krisenerprobt?
Das kann man so sagen.​

Im Migrationsbereich bahnt sich ein Stresstest an. Der Bund rechnet mit bis zu 40'000 Asylsuchenden in diesem Jahr, hinzu kommen die Ukraineflüchtlinge. Schafft das die Schweiz?
40'000 Gesuche sind das Worst-Case-Szenario. Wir gehen von etwa 27'000 aus. Aber auch das ist viel. Bei den Ukrainerinnen und Ukrainern hat sich die Zahl neuer Schutzsuchender bei knapp 500 pro Woche eingependelt. Sie hängt vom Kriegsverlauf ab. Sorgen bereiten mir die Auswirkungen des Krieges auf andere Regionen. Sie sind vor allem im Maghreb und Nahost spürbar. Viele Menschen kommen aus wirtschaftlichen Gründen nach Europa. Sie stellen auch bei uns in der Schweiz ein Asylgesuch, obwohl die Aussichten auf einen positiven Entscheid vor allem bei den Nordafrikanern praktisch bei null sind.

Armut alleine ist kein Asylgrund.
Richtig. Die Rückführungsquote war letztes Jahr bei den weggewiesenen Asylsuchenden mit 54 Prozent sehr hoch. Wir senden damit ein klares Signal aus: Es bringt nichts, in der Schweiz ein Asylgesuch zu stellen, wenn man nicht verfolgt ist. Die beschleunigten Asylverfahren haben sich bewährt.​

Trotzdem steigen die Asylzahlen. In den Gemeinden Windisch und Seegräben mussten Mieter Platz machen für Geflüchtete. Ist der soziale Friede in Gefahr?
Auf den sozialen Frieden müssen wir immer achtgeben. Das ist nicht nur in der Schweiz so. Das habe ich in Myanmar erlebt, als ich als UNO-Sondergesandte dafür verantwortlich war, dass eine Million Menschen der muslimischen Minderheit der Rohingya zurückkehren können. Wir brauchen die Akzeptanz der Bevölkerung, sonst bröckelt die Solidarität. Windisch und Seegräben haben offenbart, wie sensibel das Thema ist. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch: Der Grund für die Kündigungen waren nicht die Flüchtlinge.

Aber bei dieser Geschichte bleibt doch am Schluss hängen: Mieter raus, Flüchtlinge rein.
Vielleicht. Ich bin trotzdem froh, dass die Hintergründe aufgeklärt wurden. Die Liegenschaftsverwaltung hat den Mietern wegen eines Neubauprojektes gekündigt.​

Die Gemeinden werfen dem Bund vor, er weise ihnen quasi über Nacht neue Asylsuchende zu, die Vorlaufzeit sei zu kurz. Verstehen Sie die Kritik?
Der Bund hat auch wenig Vorlaufzeit. Wir haben im letzten Jahr etwa 75'000 Schutzsuchende aus der Ukraine und rund 24'500 Asylgesuche registriert. Wir wurden genauso vom Krieg in der Ukraine und seinen Folgen überrascht wie die Kantone und die Gemeinden. Hier waren alle Staatsebenen sehr gefordert. Ich möchte aber den Kantonen, Städten und Gemeinden ein Kränzchen winden. Gemeinsam haben wir für alle einen Platz gefunden. Auch in Zukunft soll niemand draussen schlafen.​

Die zähe Suche nach Unterkünften legt es an den Tag: Die Asylpolitik ist für eine Schönwetterlage konzipiert und gerät bei grossem Andrang aus den Fugen.
Das kann ich so nicht stehen lassen. Wir sind mit einer aussergewöhnlichen Lage konfrontiert. Bei so hohen Zahlen an Schutzsuchenden wie im letzten Jahr stossen wir zwischendurch an unsere Grenzen. Aber wir konnten alle unterbringen, betreuen und die Mehrheit der Fälle in einem beschleunigten Verfahren entscheiden. Bis jetzt hat das Asylsystem den Stresstest also bestanden.​

Passiert Migration einfach?
Ja, gewissermassen. Wir haben auf der Welt ein Ungleichgewicht zwischen Reich und Arm. Das spiegelt sich auch in der Visapolitik. Wer kein Visum erhält, reist manchmal halt illegal. Ich träume immer von einer Welt ohne Visum. Das würde bedeuten, dass nur noch erwünschte Migration stattfinden würde, zum Beispiel für Ferien. Doch das ist eine Utopie. Eine weltweite Personenfreizügigkeit würde die soziale Kohäsion heute massiv in Gefahr bringen.​

Ein Pfeiler des europäischen Asylsystems wackelt, und die Schweiz ist stark betroffen: Italien nimmt keine Asylbewerber mehr zurück, für die es eigentlich zuständig wäre, sogenannte Dublin-Fälle. Protestiert die Schweiz?
Beim letzten Treffen der Justiz- und Innenministerinnen und -minister der Schengenstaaten in Brüssel hat Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider mit gleichgesinnten Staaten eine Deklaration verabschiedet: Das Dublinsystem muss intakt bleiben. Im Februar habe ich in einem Schreiben auch meinen Amtskollegen in Rom darauf hingewiesen, dass wir Dublin einhalten müssen. Wir stehen im Kontakt mit den italienischen Behörden. Sie sagen, sie seien aufgrund der vielen Menschen, die übers Mittelmeer nach Italien gelangen, überfordert. Sie wünschen sich als Land an der Schengen-Aussengrenze mehr europäische Solidarität.​

Und dann kann man einfach die Dublin-Regeln über Bord werfen?
Nein, natürlich nicht. Aber es gibt auch keine Sanktionsmechanismen. Wichtig ist, dass wir Reformen im Schengenraum vorantreiben. Es gibt gute Vorschläge. Vorgesehen sind strikte Kontrollen an den Aussengrenzen. Es sollen keine Mauern hochgezogen, sondern alle Migrantinnen und Migranten an den Aussengrenzen konsequent registriert werden. Danach würden die Asylgesuche dort rasch behandelt, und wer keinen Schutz erhält, muss in den Herkunftsstaat zurückkehren. Wer Schutz braucht, wird von den Schengenstaaten solidarisch aufgenommen. Mit solchen Massnahmen könnten wir viele Probleme lösen.

Weshalb kommen Reformen nicht in Gang?
Länder an den Aussengrenzen wie Italien, Griechenland, Malta oder Polen misstrauen den Reformplänen, weil sie befürchten, am Schluss die ganze Last tragen zu müssen. Wir müssen Vertrauen aufbauen. Nächsten Monat zum Beispiel reise ich deshalb nach Ungarn.​

Die langen Migrationsrouten bergen tödliche Gefahren. Müsste man die Verfahren nicht in Drittstaaten ausserhalb des Schengenraums verlagern?
Der Bundesrat hat schon mehrmals gesagt, dass er keine Auslagerung der Asylverfahren anstrebt. Ich bin auch dagegen. Warum soll man hoheitliche Kompetenzen an Länder abtreten, in denen vielleicht Korruption herrscht? Ich hätte Angst, dass es dort keine fairen und korrekten Asylverfahren gibt.​

Denken Sie an Ruanda, wo Grossbritannien Verfahren durchführen möchte?
Ich nenne keine Länder. Aber es gibt viele Staaten, in denen die Rechtsstaatlichkeit nicht garantiert ist. Die Schweiz darf ihre Souveränität in dieser Frage meiner Meinung nach nicht aufgeben. Im Übrigen könnte es auch sein, dass internationales Recht wie das Non-Refoulement-Prinzip verletzt werden könnte. Letzteres besagt, dass niemand in einen Staat zurückgeführt werden darf, in dem ihm eine unmenschliche Behandlung droht.​

Tausende Menschen ertrinken im Mittelmeer, andere ersticken in Lastwagen, und Schlepper knöpfen ihnen Tausende Euros ab. So darf es doch nicht weitergehen.
Man muss diese gefährlichen Wege eindämmen und das Schleppertum entschlossen bekämpfen. Aber wir müssen die Kontrolle behalten. Ich plädiere deshalb für möglichst rasche Reformen im Schengenraum. Das Schweizer Modell mit den schnellen Verfahren könnte als Vorbild dienen. Wenn das Asylrecht griffig ist, spricht es sich herum, dass es sich nicht mehr lohnt, ein Gesuch zu stellen, wenn man nicht verfolgt ist. Dann kommen vor allem jene Menschen, die wirklich Schutz benötigen.​

Das würde aber bedeuten, die Asylverfahren würden nicht mehr in der Schweiz durchgeführt, sondern an der Schengen-Aussengrenze?
Das wäre aus meiner Sicht das Beste. Danach könnte man die anerkannten Flüchtlinge auf die Schengenstaaten verteilen - wie es der Bund mit den Kantonen macht. Anders als mit der Auslagerung an Drittstaaten würden die europäischen Länder die Verfahren aber immer noch selbst durchführen. Wer kein Asyl erhält, müsste den Schengenraum rasch wieder verlassen. Damit wäre auch die Sekundärmigration eingedämmt.​

Sehen Sie Chancen, dass solche Pläne bald Realität werden?
Die Überzeugung, dass wir in diese Richtung gehen müssen, teilen viele Staaten. Es muss ein Ruck durch Europa gehen. Ich habe das noch nie so deutlich gehört wie beim letzten Treffen der Justiz- und Innenministerinnen und -minister in Brüssel. Auch Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider forderte rasches Handeln. Deutschland, Österreich und Luxemburg sendeten die gleiche Botschaft. Laut der EU-Kommissarin für Migration lautet das Ziel, die Reform bis 2024 zu beschliessen.​

Bestehen bliebe aber das Problem der tödlichen Überfahrten über das Mittelmeer.
Wenn Personen ohne Aussicht auf Asyl wissen, dass sie sofort wieder ausreisen müssen, kommen sie nicht mehr. Es lohnt sich dann nicht mehr, sich auf solch gefährliche Reisen zu begeben. Eine alternative Möglichkeit zur Aufnahme von Flüchtlingen bieten die UNHCR-Resettlement-Programme, mit denen besonders schutzbedürftige Personen direkt aus Krisengebieten aufgenommen werden.​

Aber die Schweiz hat ausgerechnet dieses Programm letzten Herbst wegen den Kapazitätsengpässen im Asylwesen sistiert.
Wir haben nur die Einreisen sistiert, nicht das Programm. Wir wollen es so schnell wie möglich wieder aufnehmen. Hier sprechen wir uns mit den Kantonen ab. Wir helfen hier vor allem Frauen und Kindern, zum Beispiel aus Afghanistan, die sich in Drittstaaten wie dem Libanon, der Türkei oder Griechenland befinden. Sie hätten ohne ein solches Programm nicht die Chance, an einem sicheren Ort ein neues Leben zu beginnen.​

Eine andere Option wäre die Wiedereinführung des Botschaftsasyls.
Als ich Botschafterin in Thailand war, gab es diese Möglichkeit noch. Ich weiss deshalb aus eigener Erfahrung: Das bringt nichts. Die Menschen kommen, verlangen Asyl - und die Botschaft leitet das Gesuch dem Staatssekretariat für Migration weiter. In der Botschaft kann ich aber kein Asylverfahren durchführen. Je nach Land stehen Spitzel der Regimes vor der Botschaft, das bedeutet eine zusätzliche Gefahr. Wo sollen die Gesuchsteller während des Verfahrens hin? Viele konnten wir gar nicht mehr kontaktieren, weil sie geflüchtet waren, ohne auf eine Rückmeldung der Botschaft zu warten. Es kommt nicht von ungefähr, dass kein einziges Land mehr Botschaftsasyl anbietet.​

Die Erwerbsquote von Asylsuchenden ist relativ tief, die Sozialhilfeabhängigkeit hoch. Weshalb führen die vielen Integrationsbemühungen nicht zu einer signifikanten Verbesserung?
Viele Geflüchtete, zum Beispiel aus Afghanistan, sind Analphabeten und müssen zuerst in die Schule. Sie müssen sich auch zuerst an unsere Gepflogenheiten gewöhnen. Daran, dass man Kurse regelmässig besucht. Dass man pünktlich erscheint. Geflüchtete benötigen auch mehr Zeit, um sich im Arbeitsmarkt zu integrieren, weil viele von ihnen viel Leid erlebt haben, traumatisiert sind und psychologische Unterstützung brauchen. Leider mangelt es in der Schweiz auch in diesem Bereich an Fachpersonal. Die Kantone haben aber generell sehr gute Integrationsprogramme. (aargauerzeitung.ch)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
44 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Flunkie
23.03.2023 12:39registriert Juni 2019
Vor Jahren wurde unser Haus, in dem wir teilw. über 30 Jahre gewohnt hatten, verkauft. Innert Tagen wurde allen gekündigt wg. „Sanierung“. Alle Mietenden waren aus einkommensschwachen Schichten.

Es gab Verlängerung vor der Mietschlichtstelle, aber mehr nucht, weil es ein „ausgereiftes‘ Projekt war mit Offerten etc.

Bis heute gab es keine Sanierung, die Whg. sind an die Abt. Asyl der SH vermietet. Ein gutes Geschäft! Ich bin aber weder auf die Asylsuchenden noch die SH sauer, sondern auf den Besitzer und unsere Gesetzgebung. Die Politik spielt die Schwachen gegeneinander aus.
384
Melden
Zum Kommentar
avatar
Hierundjetzt
23.03.2023 12:39registriert Mai 2015
Ich weiss einfach immer noch nicht, warum man von Asien aus 13 Länder durchqueren kann, um dann hier von Verfolgung zu sprechen.

Ich weiss auch ehrlich gesagt nicht, wie unsere plötzlichen armen "Analphabeten" CHF 30'000.- dem OK bezahlen können, wenn man nur CHF 0.50 / Tag hat

--> Was ich aber weiss, dass Ukrainer, Syrier oder Kurden unsere Hilfe bedürfen.

Alles was in Autodistanz liegt ist meist echt. Alles darüber ist bessere Leben wollen.

Südamerikaner oder Asiaten bitte Ausweis L beantragen um so legal ins Land kommen.

Sorry musste mal gesagt sein.
3822
Melden
Zum Kommentar
44
Hauseigentümer-Präsident Rutz zu Sugus-Häusern: «Vorgehen spottet jeder Beschreibung»
Die Massenkündigung von Mietern in Zürich bewegt die Gemüter im ganzen Land. Nun nimmt der Präsident des Hauseigentümerverbandes Stellung zum Fall: Das Vorgehen der Hausbesitzerin sei inakzeptabel. Gregor Rutz kritisiert aber auch die Stadt Zürich scharf.

Inzwischen sind die Sugus-Häuser in der ganzen Schweiz bekannt. Die neun farbigen, quadratischen Wohnblöcke stehen im Zürcher Stadtkreis fünf unmittelbar an den Bahngeleisen. 105 Mietparteien in drei Häusern haben die Kündigung erhalten. Rund 250 Personen sollen bis Ende März ausziehen.

Zur Story