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Du willst nur das Beste? Voilà:
Herr
Widmer, Sie wollen einen Neustart der Schweiz. Warum?
Der letzte Neustart der Schweiz geschah zu Beginn des
19. Jahrhunderts, und zwar nicht freiwillig, sondern auf Druck von Napoleon. Inzwischen
ist alles ein bisschen verkrustet.
Wie macht
sich diese Verkrustung bemerkbar?
Wir haben 26 Kantone, jeder mit seiner eigenen
Verwaltung. Zu Zeiten der Postkutsche war das ja okay. Aber heute? Schweden
beispielsweise – ein mit der Schweiz vergleichbares Land – hat eine einzige
Polizei, und ist trotzdem ein Rechtsstaat.
Weg
mit dem viel besagten Kantönligeist also?
Das ist nur ein Aspekt. Wir haben auch eine
Raumplanung – aber die hat noch nie funktioniert. Das hängt zusammen mit der
Gemeindeautonomie – die ebenfalls nicht funktioniert.
Seit
ein paar Jahren geistert die Vision eines «Stadtstaates Schweiz» herum. Denken
Sie an etwas Ähnliches?
Überhaupt nicht, dann wäre Los Angeles das Vorbild.
Diese Stadt hat etwa gleich viele Einwohner wie die Schweiz und jede Menge
Einfamilienhäuser. Doch viele Einfamilienhäuser sind noch keine Stadt.
Was
genau macht eine Stadt zu einer Stadt?
Eine Stadt ist ein Ort, an dem Fussgänger Spass haben
und alle fünf Sekunden etwas Aufregendes passiert. Das kann man ja vom
Schweizer Mittelland nicht unbedingt sagen. Wir haben drei grosse Städte –
Zürich, Genf und Basel –, die für meinen Geschmack ruhig noch wachsen dürfen.
Sie
lieben also möglichst grosse Städte?
Ich bin ein reiner Stadtmensch. Dörfer braucht es nur
für die Landwirtschaft. In Bern hat es
noch die Bundesverwaltung, aber die könnten wir ja auch nach Zürich verlegen.
Was
ist für Sie eine Idealstadt?
Paris. Diese Stadt ist dynamisch und dicht.
Paris
hat, zumindest im historischen Teil, keine Hochhäuser. Es gibt ein Gesetz, dass
die Höhe der Häuser auf rund 30 Meter begrenzt.
Paris ist auch ohne Hochhäuser dichter als die meisten
anderen Städte. Wer höher als im achten Stock wohnt, der lebt nicht mehr in
einer Stadt, sondern in einem Wolken-Kuckucks-Heim. In meiner Idealstadt muss
die Kommunikation unter den Menschen sehr intensiv sein, ebenso die Kooperation
– und alles muss nah sein, spannend und vielfältig.
Sie
sind einer der geistigen Väter hinter Siedlungen wie Kraftwerk oder der
Kalkbreite. Sind das die Wohnformen der Zukunft?
Von solchen Siedlungen muss es in Zürich noch etwa 500
mehr geben. Sie konnten auf Brachen gebaut werden. Jetzt aber gilt es, die
bestehenden Häuser zu verdichten. Oder um es zeitgemäss auszudrücken: Es geht
darum, normale Quartiere in Nachbarschaften upzugraden. Das ist mehr als nur
ein Ort, wo man wohnt.
Was
fehlt einer Siedlung wie der Kalkbreite zur Nachbarschaft?
Die Grösse. Für eine funktionierende Nachbarschaft
braucht es zwischen 500 und 800 Menschen, die auf weniger als einer Hektare
wohnen. Dann kann man auch eine gemeinsame Infrastruktur betreiben, die sich
rechnet. Die Kalkbreite ist nur halb so gross.
Was
heisst Infrastruktur selber betreiben? Werde ich dann zum Putzen und Kochen
eingeteilt und muss jede Woche an einer Vollversammlung teilnehmen?
Nein, das machen Profis, wie früher in einem
funktionierenden Quartier. Als ich als junger Mann nach Zürich in den Kreis 5
kam, gab es in dem, was ich als Nachbarschaft bezeichne, einen Metzger, zwei Bäcker
und drei Gemüseläden, alles innerhalb einer Gehdistanz von einer Minute. Diese
Qualität kann die Migros mit den modernsten Supermärkten nicht ersetzen.
Wie
soll das betriebswirtschaftlich aufgehen?
Jede Nachbarschaft ist ein Supermarkt in sich. Sie ist
auch ein Restaurant, eine Wäscherei, ein Billardsalon, usw. Es ist ein Modul für Vielfalt.
Das
kann nur bei Gleichgesinnten funktionieren. Wir haben dann eine Nachbarschaft mit
500 Hipstern, eine mit 500 Veganern, 500 Scientologen, etc.
Sollten 500 Hipster das tatsächlich probieren, gäbe es
nach fünf Jahren bloss noch 200, die andern hätten sich gegenseitig umgebracht.
Aber ernsthaft: Die Nachbarschaft funktioniert nur, wenn es einen kulturellen
und demografischen Mix gibt. Es hat Alte und Junge, Blöde und Gescheite,
Unausstehliche und Liebe. Das einzig Verbindende ist die Logistik.
Was
unterscheidet Ihre Nachbarschaft von einer Genossenschaft im traditionellen
Sinn?
Als Rechtsform finde ich die Genossenschaft prima, und
ich bin ja auch irgendwie ein Linker. Was mich hingegen an der traditionellen
Linken stört: Sie betrachtet die Stadt als einen Ort, wo Menschen untergebracht
werden, um zu arbeiten. Dann braucht es noch
einen Coop in der Umgebung, und das linke Glück ist perfekt. Doch die Menschen
wollen mehr. Den Linken müsste man jeden Tag sagen: Hey, die Menschen wollen
dreimal linker sein als ihr Linken!
Ist
das der Grund, weshalb die Linke derzeit kriselt?
Die Linke braucht wieder ein Projekt. Das alle alles
haben, reicht nicht. Es müssen auch alle Einfluss auf alles haben. Mit anderen
Worten: Wir brauchen Nachbarschaften mit autonomen Verwaltungen.
Ist
dieses Projekt marktwirtschaftlich? Neuerdings will ja selbst Sarah Wagenknecht
den Kapitalismus retten.
Kapitalismus verträgt sich schlecht mit diesen
Nachbarschaften. Sie machen ja keinen Gewinn. Und mit dem Wachstum ist es
ebenfalls vorbei. Das Konzept sieht vor, dass man – bildlich gesprochen – vom
hohen Ross auf einen kleinen Esel heruntersteigt. Wir können nicht mehr wie
bisher weiterfahren, sonst ruinieren wir den Planeten.
Wie
soll das Leben noch Spass machen, wenn wir uns immer mehr einschränken müssen?
Wir müssen uns nicht in erster Linie einschränken,
sondern mehr Dinge miteinander teilen.
Sharing
Economy also?
Man kann nicht alles teilen. Wein beispielsweise geht
schlecht, dann hat jeder weniger. Aber Räume kann man sehr gut teilen. Das
sieht man in den neuen Siedlungen der Genossenschaften. Pro Person rechnet man
mit 35 Quadratmetern, der städtische Durchschnitt beträgt 50 Quadratmeter.
Weniger
Platz tönt wenig attraktiv.
Dafür gibt es viel mehr Platz in den
Gemeinschaftsräumen. Es ist doch Blödsinn zu versuchen, jede Privatwohnung in
ein Fun & Fitnesscenter zu verwandeln.
Nähe generiert Luxus. Das ist ja auch das Konzept der Luxushotels, die
alles inhouse anbieten. Deshalb sind die reichen Bürger der Belle Epoque gerne
dort abgestiegen.
Nähe
kann auch zum Problem werden. Denken wir bloss an die legendären
Waschküche-Streitereien.
In unseren Nachbarschaften kann man sich eine
professionelle Wäscherei leisten.
Aber
Konflikte wird es trotzdem geben. Wie werden die in Ihrer Nachbarschaft gelöst?
Ich habe ein Jahr in New York gelebt, einer Stadt, die
jetzt schon viel dichter ist als unsere Nachbarschaften je sein werden. Die New
Yorker leben in sehr kleinen Wohnungen.
Dort schützen sie ihre Privatsphäre rigoros. Dafür sind die Umgangsformen der
Menschen untereinander sehr freundlich. Wäre das nicht so, dann würden sie sich
gegenseitig umbringen.
Freundlich
sein und die Privatsphäre schützen, ist das also das Rezept?
Dazu kommen interne Schlichtungsstellen, wie sie die
Genossenschaften heute schon kennen.
Wenn
nicht schon der Urgrossvater Genossenschafter war, hätte man keine Chance
beizutreten, heisst es. Stimmt das?
Wir müssen einfach die Anzahl der Genossenschaften
verdreifachen. Dann hat es für alle Platz. Die Genossenschaften wollen ja nicht
exklusiv bleiben. Sie können nicht mehr bauen, weil es kein Bauland mehr gibt
oder sie überboten wurden. Der Kapitalismus hat die Genossenschaften klein
gehalten – und jetzt wirft man ihnen das vor. Jede Genossenschaft, die ich
kenne, würde liebend gerne bauen.
Angenommen,
Sie hätten Land. Wer würde Ihre Nachbarschaften finanzieren?
Die Banken. Es handelt sich ja um ein vernünftiges
Projekt.
Bekommen
Banker nicht Hautausschläge, wenn sie das Wort Genossenschaft hören?
Überhaupt nicht.
Solange ich meine Zinsen bezahle, sind sie happy. Genossenschaften sind zudem grundsolide. Mit
ist keine einzige Genossenschaftspleite bekannt.
Dafür
gelten sie als ein bisschen bieder.
Quatsch. Mir ist der soziale Druck einer Genossenschaft
sympathischer als der Druck eines kommerziellen Vermieters. Mit dem
Genossenschaftsverwalter kann ich Differenzen per Du bereinigen, mit dem
Verwalter der Livit und der Wincasa eher nicht.
Trotzdem
gelten die Genossenschaften als Hochburgen der alten, etwas muffig gewordenen
Linken.
Seit den 90er Jahren ist viel passiert. Besuchen Sie
doch einmal die neue Siedlung «Mehr als wohnen» in Schwamendingen. Dort leben
immerhin 1300 Menschen – und die Stadt ist heute stolz, dass sie das Land für
dieses Projekt zur Verfügung gestellt hat.
Zu
Ihrem Nachbarschaftskonzept gehört auch eine enge Zusammenarbeit mit Bauern.
Wie funktioniert das?
Sehr einfach. Jede Nachbarschaft benötigt rund 60
Hektaren Land, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen, also Gemüse, Fleisch und
Milchprodukte. Richtig verteilt sind diese Flächen nicht mehr als 50 Kilometer
entfernt. Die aufwändige Logistik, die wir heute haben, fällt weg.
Die
Schweiz hat aber heute einen Selbstversorgungsgrad von etwa 50 Prozent.
Wenn die Menschen in die urbanen Nachbarschaften
ziehen, dann gewinnen wir neues Kulturland. Wir werden die Infrastruktur für eine
Einfamilienhäuschen-Gesellschaft irgendwann schlicht nicht mehr tragen können.
Wie
sieht das in Sachen Mobilität aus?
Es gibt nur drei vernünftige Verkehrsmittel: Bus, Lift
und zu Fuss. Alle anderen sind schwierig, auch das Velo. Es ist zwar ökologisch
super, aber eignet sich schlecht für Städte. Deshalb drängen selbst die
Holländer das Velo weg von den Fussgängerzonen.
Wie
wird Ihre Stadt mit den Nachbarschaften schliesslich aussehen?
Es ist eine Fussgängerstadt, die nicht mehr von
Autostrassen zerschnitten wird. In den alten Teilen einer Stadt wie Zürich muss
man baulich gar nicht viel verändern, nur die Autos wegsperren. Man muss auch
nicht mehr weiter verdichten, höchstens da und dort sanft optimieren.
Was
würden Sie mit dem Paradeplatz und der Bahnhofstrasse machen?
Die Bahnhofstrasse muss wieder luxuriöser und
eleganter werden, und mehr Cabaret. Wir müssen uns auf den bürgerlichen Luxus
zurückbesinnen und die Billigläden wie H&M zum Teufel jagen.
Passt
das zu einer Wirtschaft ohne Wachstum?
Luxus ist ökologisch. Tödlich ist der
Durchschnitts-Komfort, das Blätzli mit der Beilage, die etwas zu grosse
Wohnung, die doch nichts Rechtes hergibt, und die etwas zu billigen Kleider,
die man dauernd ersetzen muss.
Wie
sieht ihr ökologischer Luxus aus?
Die meiste Zeit isst man bescheiden, fast vergan. Aber
ein paar Mal im Jahr darf man richtig zuschlagen. Dieses Prinzip gilt auch für
die Architektur. Der Primetower ist kein Problem, es gibt ja nur den einen.
Hätten wir 20 davon, wäre das etwas anderes.
Der
politische Trend spricht derzeit nicht für ihre urbanen Nachbarschaften. Die
Autolobby ist mächtig im Vormarsch. Sind Ihre Pläne nicht utopisch?
Wenn ich mit Bauern spreche, sind die begeistert, vor
allem die jungen, selbst wenn sie SVP wählen.
Auch Projekte wie die Kalkbreite und «Mehr als wohnen» kommen sehr gut
an. Die Menschen merken, dass Kooperieren mehr Spass macht als sich gegenseitig
zu Tode zu konkurrenzieren.
Müssen
wir nicht zuerst gegen eine Wand fahren, bevor wir Menschen umdenken?
Angela Merkel ist derzeit vielleicht die europäische
Politikerin, die am weitesten links steht.
Wer hätte das je gedacht? Sie hat eines Tages erklärt: Jetzt machen wir
Willkommens-Kultur. Vielleicht gibt es
ja einmal einen SVP-Bundesrat, der etwas Ähnliches macht wie Merkel und sagt:
Jetzt machen wir eine Nachbarschafts-Kultur.
Ein
SVP-Bundesrat?
Ein Neustart Schweiz muss unter einer Rechtsregierung
erfolgen. Ein paar Exoten wie ich können das allein nicht stemmen.
Und
kann die Schweiz das in einer globalisierten Welt autonom tun?
In der Geschichte hat die Schweiz immer wieder mal
Narrenfreiheit gehabt. Im 19. Jahrhundert waren wir rund 50 Jahre lang die
einzige Demokratie und Fluchtort für alle Revolutionäre. Marx hat im
Kommunistischen Manifest die Schweiz ausdrücklich erwähnt. Auch heute könnte
die Schweiz eine Art «Disneyland der Zukunft» werden.
Heidi-Nachbarschaften
mit Alphörnern?
Warum nicht? Es ist keine Geschmacksfrage und darf
auch völlig geschmacklos sein. Die Welt könnte ja dann sagen: Die Schweizer
sind eh ein bisschen komisch, die können wir machen lassen.
(Gestaltung: Anna Rothenfluh)