Der tödliche Konflikt zwischen zwei Mädchen, bei dem eine 14-Jährige offenbar eine 15-Jährige erstochen hat, ist für viele unbegreiflich. Der erfahrene Forensiker Josef Sachs schätzt den tragischen Falls ein.
Kennen Sie andere Fälle aus der Schweiz, bei denen ein Mädchen ein anderes Mädchen umgebracht hat?
Josef Sachs: Nein, ein anderer Fall wie dieser in Berikon ist mir nicht bekannt. Es kommt immer wieder vor, dass Gruppen von Mädchen oder sogenannte Gangs ein einzelnes Mädchen angreifen. Zuletzt gab es einen solchen Fall in Oensingen, wo sechs Mädchen eine 16-Jährige angriffen. Auch in Aarau gab es im Herbst 2023 einen Vorfall, bei dem ein Mädchen verprügelt wurde.
Wie kann es so weit kommen, welches Motiv könnte hinter einer solchen Tat stecken?
Ich kenne die Hintergründe des aktuellen Falls nicht, deshalb kann ich nur sagen, was allgemein für Gewalt unter Jugendlichen gilt. Bei Konflikten zwischen Mädchen geht es meistens um Beziehungen, zum Beispiel um einen Jungen, eine gemeinsame Freundin oder um Verleumdung.
Aber ist die Gewaltbereitschaft bei Mädchen nicht viel niedriger als bei Buben?
Das ist so, die Forschung zeigt, dass die Gewaltbereitschaft bei Mädchen viel tiefer ist, sie liegt nur bei 10 bis 15 Prozent. Das gilt besonders für schwere Gewaltdelikte, die zu gravierenden Verletzungen führen. Häufiger sind unter Mädchen hingegen Mobbing, psychische Gewalt oder leichte körperliche Gewalt wie Kratzen, An-den-Haaren-Reissen oder Ähnliches.
Wenn es zu Gewalt unter Jugendlichen kommt, stellt sich die Frage nach psychischen Erkrankungen oder dem Einfluss von Drogen und Alkohol. Wie kann sich das äussern?
Das sind sehr wichtige Aspekte in solchen Fällen, denn bei psychischen Krankheiten gleicht sich die Gewaltbereitschaft zwischen den Geschlechtern etwas an. Der Unterschied zwischen der Gewaltbereitschaft von männlichen und weiblichen Jugendlichen wird dann geringer.
In Berikon war laut der Polizei eine Stichwaffe im Spiel, allenfalls hatten sogar beide Mädchen ein Messer, denn auch die mutmassliche Täterin wurde verletzt. Auch bei Messerangriffen denkt man viel eher an junge Männer, nicht an Mädchen?
Das ist korrekt, Fälle von Mädchengewalt mit Messern sind selten, bei beiden Geschlechtern haben sie aber in den letzten Jahren zugenommen. Wenn eine Frau zu einem Messer greift, dann meist in Fällen von häuslicher Gewalt, wo diese Waffe in der Küche schon vorhanden ist. Ganz grundsätzlich muss man aber sagen, dass Messer relativ einfach verfügbar und zu beschaffen sind, viel einfacher und unauffälliger auf jeden Fall als Schusswaffen.
Wir kennen die Vorgeschichte des Falles nicht, aber eine Messerstecherei dürfte nur der tragische Höhepunkt eines längeren Konflikts sein?
Davon gehe ich aus, wobei sich die Frage stellt, wie sich dieser Konflikt geäussert und entwickelt hat und ob Aussenstehende etwas davon mitbekommen haben. Tatsächlich scheint es sich bei diesem Fall um eine Art Duell der beiden Mädchen zu handeln, das für eines tödlich endete. Körperverletzung mit Todesfolge gehört zu den häufigsten Formen von Tötungsdelikten bei jungen Frauen. So etwas passiert nicht aus dem Nichts heraus, das hat sicher eine Vorgeschichte, die wir bisher aber noch nicht kennen.
Ist es denkbar, dass ein solcher Konflikt zwischen den beiden Mädchen in der Schule und in den Familien niemandem aufgefallen ist?
Das ist durchaus denkbar, Mädchen sind sozial anpassungsfähiger als Buben. Das kann sich darin zeigen, dass sie nach aussen völlig normal wirken, obwohl sie innerlich mit einem Konflikt oder einer Belastung zu kämpfen haben. Es ist möglich, dass die beiden Mädchen in der Schule oder zu Hause keine Auffälligkeiten zeigten, obwohl es vielleicht in der Freizeit, wenn sie alleine waren, einen schwerwiegenden Konflikt gab.
Wird bei der mutmasslichen Täterin nun ein psychiatrisches Gutachten angeordnet?
Ja, ich gehe davon aus, dass das Mädchen begutachtet wird. Allenfalls wird danach eine stationäre oder ambulante Massnahme angeordnet. Darüber zu entscheiden, ist Sache des Jugendgerichts.
Für männliche Jugendliche gibt es das Jugendheim auf der Festung Aarburg. In welcher Institution könnte die mutmassliche Täterin untergebracht werden?
Es gibt im Aargau keine Institution wie die Festung Aarburg für Mädchen, in anderen Kantonen wie Bern und Zürich existieren aber solche Angebote.
Dass da ein Mädchen an einem sonnigen Sonntagnachmittag einfach nicht mehr nach Hause kommt... sehr, sehr traurig.
Viel Kraft den Angehörigen.