Der Terminkalender von Josef Sachs quellte über in den vergangenen Wochen. Denn heute Montag hat er seinen letzten Arbeitstag als Chefarzt der Psychiatrischen Klinik Königsfelden, wo er 25 Jahre lang arbeitete. Alles muss noch erledigt und fertiggestellt werden. Auch Gutachten, denn solche sind an den Arzt gebunden und werden nicht an einen Nachfolger übergeben. Sachs empfängt morgens um 7 Uhr im imposanten Klinikgebäude aus dem Jahr 1872.
Herr Sachs, Sie haben bestialische
Tötungsdelikte gesehen, Familiendramen, Suizide, Kindesmissbräuche – was erschüttert Sie noch?
Josef Sachs: Wenn ich von einem brutalen Gewaltdelikt höre, bin ich erschüttert wie am ersten Tag. Ich habe aber gelernt, schnell den Ablauf dieser Delikte, den Hintergrund und das Motiv in den Vordergrund zu rücken und alles andere auszublenden. Verstehen schafft Distanz.
Verspüren Sie nie Wut gegenüber einem Täter?
Doch, das kommt vor, vor allem wenn ich zum ersten Mal von einer Tat höre. Je mehr ich über den Täter weiss, desto mehr verschwindet die Wut, desto mehr steigt mein wissenschaftliches Interesse an Motiv und Ablauf der Tat.
Sezieren Sie Ihre Täter psychisch, wie ein Automechaniker seine Motoren auseinandernimmt?
Das können Sie so sehen. Damit ich einen Menschen oder eine Tat verstehen kann, brauche ich Distanz und muss Interesse zeigen. Deshalb gehen die Emotionen zurück. Diese sind am Anfang natürlich da, wenn ich erfahre, was der Täter bei den Opfern angerichtet hat.
Als Sie 1991 in die forensische Psychiatrie in Königsfelden eintraten, gab es drei Mitarbeiter. Heute sind es fast 100. Ist der Mensch kränker geworden?
Weder ist der Mensch kränker geworden noch gibt es mehr Täter. Aber die Ansprüche an die forensische Psychiatrie sind gestiegen. Denn die allgemeine Psychiatrie ist kaum mehr bereit, Verbrecher aufzunehmen. Früher wurden sie irgendwo und oft nicht adäquat behandelt. Heute gibt es spezialisierte Abteilungen, wodurch die Rückfallgefahr kleiner geworden ist.
Wie gehen Sie vor?
Das hängt vom Krankheitsbild ab. Bei der Therapie von Gewalttätern konzentrieren wir uns auf die Faktoren, die zum Delikt geführt haben. Man rekonstruiert dann den Ablauf des Deliktes wie ein Drehbuch. Es beginnt bei der Vorgeschichte und endet beim Verhalten nach der Tat. So erkennt man, wo man hätte eingreifen können, wo sich ein Täter anders verhalten könnte. Damit erreichen wir, dass ein Täter Experte von sich selber und von seiner Tat wird.
Sorgt man heute nicht zu viel für die Täter und zu wenig für die Opfer?
Therapien sind sehr teuer und aufwendig. Heute wird in der Tat noch zu viel nach dem Giesskannenprinzip therapiert. Man hat eine Methode zur Verfügung, die für alles angewendet wird – wie wenn ein Zimmermann meint, er könnte mit dem gleichen Werkzeug einen Baum fällen und ein Möbelstück schreinern. Man sollte Aufwand und Know-how stärker auf Täter konzentrieren, bei denen eine Therapie auch wirklich Erfolg verspricht.
2009 wurde das 16-jährige Au-pair-Mädchen Lucie bestialisch ermordet. Der Täter hatte schon einmal eine Frau fast umgebracht, ein Gutachten besagte, er sei therapierbar. Wie kann ein solcher Irrtum passieren?
Ein Gutachten kann zum Schluss kommen, dass jemand therapierbar ist. Das heisst aber nicht, dass eine Therapie dann auch Erfolg hat. Das ist vergleichbar mit einer Lungenentzündung: Diese ist therapierbar, aber die Therapie kann nicht greifen, wenn der Patient die Antibiotika nicht zuverlässig nimmt. Bei Lucies Mörder kommt dazu, dass er bei der ersten Tat sehr jung war. Da ist es viel schwieriger, eine Entwicklung vorherzusagen als bei jemandem, der bereits gefestigt ist.
Was heisst das für den Umgang mit jungen Tätern?
Es bräuchte mindestens einmal pro Jahr eine Überprüfung. Doch da gibt es eine Lücke im Gesetz: Ein Urteil wird nach der Tat gefällt und gilt. Ohne neue Straftat gibt es keine Neubeurteilung. Lucies Mörder war in einer Arbeitserziehung für junge Erwachsene. Das ist die ideale Therapiemethode, aber die Massnahme ist auf vier Jahre befristet. Noch gravierender ist die Gesetzeslücke bei unter 18-Jährigen: Da hört jede Massnahme automatisch mit 22 auf, egal, wie gefährlich ein Täter ist und wie schwer das Delikt war. Das ist falsch: Nur weil jemand unter 18 war, ist das keine Garantie, dass er nicht gefährlich ist. Diese Altersgrenze müsste höher sein, oder noch besser: Wenn die Therapie nicht fruchtet, müsste man sie in eine zeitlich unbefristete überführen können.
Die Gesellschaft ist heute nicht mehr bereit, ein Restrisiko zu tragen.
Diesen Eindruck habe ich auch. Doch leider gibt es immer ein Restrisiko. Denn eine Prognose über einen Täter ist nie eine hundertprozentige Vorhersage, ein Psychiater ist kein Prophet. Wenn Sie erreichen wollen, dass niemals jemand rückfällig wird, müssten Sie jeden Ersttäter lebenslänglich einsperren. Das würde dazu führen, dass wir extrem viele Gefangene hätten, wie die USA. Trotzdem würde die Kriminalität nicht sinken, weil es immer neue Ersttäter gibt.
Schrecken strenge Strafen oder lebenslange Verwahrung ab?
Untersuchungen zeigen klar, dass es nicht auf die Höhe der Strafe ankommt, sondern auf das Risiko, erwischt zu werden. Wenn jemand befürchtet, er werde erwischt, dann schreckt das ab – egal, wie streng die Strafe ist. Das ist auch bei Ladendiebstählen so: Eine gute Überwachung mindert die Anzahl Diebstähle, nicht aber die Höhe der Busse.
Sie selber machen viele Gutachten. Wie läuft ein Gespräch mit einem Täter ab?
Am Anfang stelle ich offene Fragen, um zu schauen, worauf er von sich aus zu reden kommt. Dann werden die Fragen immer geschlossener, bis hin zu Ja-oder-Nein-Fragen. Wenn ich eine psychische Störung feststelle – Schizophrenie, Wahnvorstellungen, Halluzinationen –, dann versuche ich herauszufinden, woher diese Störung kommt. Ich versuche, die Fantasie zu evaluieren, zu prüfen, warum er zum Beispiel Tötungsfantasien hatte. Ich rekonstruiere die Vorgeschichte, den Tatablauf und die heutige Haltung zur Tat.
Wie viele bereuen ihre Tat?
Die meisten bereuen vor allem, dass sie ihr eigenes Leben zerstört haben und verhaftet wurden. Ich hatte mal mit einem Täter zu tun, der eine Frau brutal niedergestochen hatte. Er hatte am Tatort einen Zigarettenstummel weggeworfen und wurde deshalb dank DNA-Analyse überführt. Er bereute vor allem, dass er nicht an die Möglichkeit einer DNA-Analyse gedacht hatte ... Nur wenige Täter bereuten ihre Tat in dem Sinn, dass sie sagen: Ich muss an mir selber etwas ändern.
Haben Sie in Gesprächen mit Tätern nie Angst?
Nein. Ich wurde nur einmal geringfügig angegriffen, als einer einen Blumentopf nach mir warf. Aber er hat mich nicht getroffen. Seither sind Blumentöpfe auf dieser Station verboten.
Wie merken Sie, ob Sie angelogen werden?
Täter – oder Exploranden, wie wir sie nennen – lügen oft. Noch häufiger verdrehen sie Tatsachen oder unterschlagen wichtige Informationen. Nur selten kommt man ihnen direkt auf die Schliche. Ein Gutachten ist wie ein Puzzle: Lügt einer, dann passt ein Puzzlestein nicht, dann geht etwas nicht auf. Deshalb sprechen wir auch mit anderen Personen. Dann merke ich, wenn das, was jemand über sein Leben sagt, nicht übereinstimmt mit dem, was Arbeitgeber, Eltern und Kollegen schildern. Es ist sehr schwierig, auf Dauer nicht die Wahrheit zu sagen und sich dabei nicht in Widersprüche zu verstricken.
Scannen Sie Ihr Gegenüber auch in privaten Situationen und prüfen, ob man Ihnen die Wahrheit sagt?
Natürlich kann ich mein Wissen im Privaten nicht ausschalten, aber ich wende es nicht direkt an. Ein Gespräch, in dem ich jemanden genau beobachten und hinterfragen muss, ist sehr anstrengend. Würde ich das dauernd mit Kollegen und Familienangehörigen machen, wäre das harte Arbeit (lacht).
Welche Fälle haben Sie während Ihrer Karriere am meisten bewegt?
Nicht unbedingt jene, die gross in den Medien kamen. Ein 17-Jähriger zum Beispiel hat eine Serie schwerster Gewaltdelikte begangen: Autos gestohlen, Leute mit Waffen bedroht und niedergeschlagen. Ich musste ihn als untherapierbar beurteilen, weil er überhaupt nicht gewillt war, sich zu bessern. Er sagte mir: «Wenn ich einen Psychiater nur schon von weitem sehe, wird mir schlecht.» Während einigen Monaten war er dann im Gefängnis. Als ich ihn auf Antrag der Jugendanwaltschaft besuchte, merkte ich, dass er wie ein umgedrehter Handschuh war. Offenbar hat der mehrmonatige Gefängnisaufenthalt zu einem inneren Wandel geführt. Ich bin ihm dann Jahre später wieder begegnet: Er hatte Frau und Kind und eine Arbeitsstelle. Das bewegte mich sehr stark.
Wann waren Sie selber unsicher?
Der Dreifachmord in Wohlen, wo ein junger Mann aus der Dominikanischen Republik drei Prostituierte im wahrsten Sinn des Wortes niedergemetzelt hat. Ich sah anschliessend diese Wohnung. Es hat schrecklich ausgesehen. Der Täter konnte sich an nichts mehr erinnern. Ich fragte mich: Sagt er die Wahrheit? Es gab keinen medizinischen Grund für die Gedächtnislücke. Gleichzeitig gibt es Dinge, die man nicht erklären kann.
Betrachten wir ein paar aufsehenerregende Fälle. Zum Beispiel «Carlos». Wie teuer darf eine Therapie sein?
Ich kann Ihnen keinen Frankenbetrag nennen. Entscheidend ist, dass das Kosten-Nutzen-Verhältnis stimmt – wie überall in der Medizin: Wenn die Krankenkasse eine teure Krebs-Behandlung zahlt, dann muss die Chance auf Erfolg hoch sein. Wäre «Carlos» in einer Klinik untergebracht gewesen, hätte das ebenso viel gekostet. Das hätte die Öffentlichkeit toleriert. Sie versteht aber zu Recht nicht, warum einem Täter eine schöne Wohnung, Kickbox-Stunden bei einem Schweizer Meister und Rindfleisch bezahlt wird. Da wird am Gerechtigkeitssinn geritzt.
Der Selbstmord-Pilot von Germanwings: Wie kann jemand kaltblütig 150 Menschen mit in den Tod reissen?
Ein solcher Mensch hat nur noch Tod und Untergang vor Augen. In diesem Fall gab es eine Kombination von Depression, Aussichtslosigkeit, Selbstmordabsicht und Narzissmus, im Sinn von: Wenn ich untergehe, soll es viele mit mir mitreissen. Jemand, der vor vielen Menschen von einer Brücke springt, handelt ähnlich. Oder auch der Vater, der seine Kinder mit in den Tod reisst.
Ja, die Familiendramen: Wie kann jemand seine Liebsten umbringen?
Dem liegt eine egoistische Vorstellung zugrunde: Wenn ich sterbe, muss die Familie mitkommen, sie kann ohne mich nicht leben. Der narzisstische Mensch sieht Nahestehende nicht als eigenständige Wesen, sondern als Teil von sich selber; als Accessoire, die da sind, um ihn besser dastehen zu lassen. Ein narzisstischer Mann hat keine Freundin, weil er sie liebt. Sondern weil er stolz ist, sich mit ihr zu zeigen.
Warum haben Scheidungsdramen zugenommen?
Heute muss viel mehr ausgehandelt werden. Früher wurden Kinder fast immer der Mutter zugesprochen – und die Sache war erledigt. Heute ist das geteilte Sorgerecht der Normalfall, und da muss man diskutieren. Da ist das Konfliktpotenzial grösser. Wenn man verhandeln muss, gibt es Verlierer. Und nicht alle Menschen sind gute Verlierer.
Machen Gewaltspiele Jugendliche brutaler?
Sie beeinflussen vor allem Jugendliche, die in Familien aufwachsen, die Gewalt tolerieren oder sogar verherrlichen. Solche Games wirken dann wie Lernprogramme für Gewalt, vergleichbar mit Programmen zum Erlernen einer Fremdsprache. Wenn man einen Gedanken häufig denkt, dann wird er immer normaler. Wenn also jemand sich vorstellt, einen Mord zu begehen, dann ist das zu Beginn etwas Schreckliches. Mit der Zeit wird die Vorstellung immer normaler. Bei den Utzi-Killern war das so: Sie haben Gewalt-Videos geschaut, dann fantasiert, wie das wäre, es selber zu machen, zuerst als Gedankenspiel und Spielerei, und je mehr sie das durchgespielt haben, desto realistischer wurde es. Und eines Tages schritten sie zur Tat.
Wie gross ist der Einfluss der Erziehung, ob ein Kind gewalttätig wird oder nicht?
Die Erziehung ist das alles Entscheidende, ob Gewalt als etwas Abstossendes oder etwas Erstrebenswertes erlebt wird. Aber Achtung: Es wäre auch falsch, wenn Eltern rigide alles ablehnen würden, was irgendwie mit Gewalt zu tun hat. Was verboten ist, wird attraktiv. Wenn ein Kind also mit einem Modellpanzer spielt, ist das harmlos. Wichtig sind klare Grenzen: Eine Spielzeugwaffe auf einen Menschen zielen ist ein Tabu, weil das die Verharmlosung fördert.
Warum nehmen Burnouts zu?
Das Phänomen nimmt nicht zu – aber es hat einen Namen bekommen. Wenn es jemandem schlecht geht oder der Job nicht mehr gefällt, dann sagt man schnell mal: Ich habe ein Burnout. Denn das ist sozial akzeptiert. Viele Menschen, die wegen Burnouts aus dem Arbeitsprozess scheiden, haben ein völlig anderes Problem: eine Depression, Alkoholsucht oder eine Überforderung.
Hat eigentlich jeder Mensch einen psychischen Schaden?
Nein. Ein psychischer Schaden bedeutet eine Krankheit, und nicht jeder Mensch ist krank. Deshalb braucht auch nicht jeder Mensch einen Psychiater.