Die Schweiz wächst. Platz für weitere Einwohnerinnen und Einwohner hat es laut den Immobilienfachleuten von Wüest Partner noch reichlich: 11.4 Millionen Menschen könnte das Land beheimaten. Um das Land in dieser Grösse zu organisieren, müssen wir es neu denken, sagt Infrastrukturexperte Matthias Finger. Seine Lösung: eine grosse, grüne Stadt und keine 26 Kantone mehr.
Viele Strassen und Züge sind voll: Ist die Schweizer Verkehrsinfrastruktur den bald neun Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern gewachsen?
Ich gehe schon von zehn Millionen aus. Man muss die Grenzregionen dazurechnen, vor allem wenn wir über den Verkehr reden. Jeden Tag kommen 350'000 Grenzgänger in die Schweiz. Ich lebe in Genf, das ist grenzübergreifend eine riesige Agglomeration. Die erste Grenze des Bevölkerungswachstums, die ich sehe, ist aber nicht die Mobilität. Die Leute nehmen Stau in Kauf.
Wo wird es zuerst problematisch?
Die ersten wirklichen Grenzen sehe ich beim Wasser. In Frankreich gibt es in einem Departement keine Baubewilligungen mehr wegen der Wasserknappheit. In der Schweiz sind wir noch nicht ganz so weit, aber auch im Kanton Jura gibt es einige Gemeinden, die nicht mehr bauen, weil es an Wasser mangelt.
In welchen Bereichen könnte es sonst noch kritisch werden?
Bei der Energie. Wir setzen auf die Elektrifizierung, haben aber den Strom dafür nicht. Wir könnten ihn importieren, wenn wir mit der EU ein Abkommen fänden. Das ist eine politische Frage.
Wie sollen wir in der Schweiz mehr Strom herstellen?
Man kann mit Solar- und Windenergie nachhelfen. Aber auch das ist politisch schwierig. Wegen Windrädern wird ausgerufen.
Gemäss Berechnungen von Wüest Partner haben in der Schweiz unter den heutigen Bedingungen 11.4 Millionen Einwohner Platz. Was muss passieren, damit die Infrastruktur mit einem solchen Wachstum Schritt halten könnte?
Man kann schon noch ein bisschen mehr Infrastruktur bauen, aber wir sind an der Grenze. Eine neue Zugspur bringen Sie kaum mehr hin, eine neue Autobahn können Sie vergessen. Wir müssen anders vorgehen. Mit Effizienzgewinnen können wir mehr aus der Infrastruktur herausholen.
Wie soll das gehen?
Man muss schauen, wo die Ineffizienzen sind, und in die Bottlenecks, also Engpässe im Verkehr, investieren. Aus dem öffentlichen Verkehr könnten wir noch mehr rausholen. Es wird aber am falschen Ort investiert. Das kommt daher, dass die Politik die Planung macht und nicht die SBB. Jeder Kanton muss etwas erhalten. Für das System ist das nicht optimal.
Sie fordern mehr Gestaltungsmacht für die SBB?
Ich fordere das gleiche Modell wie bei der Elektrizität. Swissgrid betreibt das Hochspannungsnetz und bestimmt, wo das Geld gebraucht wird, damit das System optimal funktioniert. Auf der Schiene sollte es ebenso laufen. Es braucht natürlich einen Regulator. Die Unternehmen sollen nicht einfach machen können.
Wo muss man konkret mehr investieren?
In die grossen Kreuzungen und Bahnhöfe. In Bern ist man dran. Lausanne und Luzern müssen ebenfalls dringend ausgebaut werden. In den Stosszeiten braucht es zudem einen Metrotakt. Wenn alle 15 Minuten ein Zug fährt, ist kein Fahrplan mehr nötig und auch das Problem der Anschlusszüge würde gelöst. Schnellere Verbindungen braucht es hingegen nicht. Die Leute schätzen Verlässlichkeit mehr als zehn Minuten Zeitgewinn zwischen Zürich und Bern.
Wie sieht es auf der Strasse aus?
Ich mache mir keine Freunde, aber: Ein Auto ist durchschnittlich mit 1.6 Personen besetzt und steht 23 von 24 Stunden herum. Das ist einfach ineffizient. Ich bin nicht gegen das Auto, es wird für die letzte Meile gebraucht. Aber mit Rufbussen oder E-Shuttles für 15 Personen könnte man mehr aus der Strasse holen.
Wen sehen Sie in der Verantwortung?
Die Bahnhöfe gehören den SBB, das Land drumherum meist den Städten. Die Autobahnen sind beim Bund, die anderen Strassen bei Kantonen und Gemeinden. Für das Gesamtsystem ist niemand verantwortlich. In der Schweiz haben wir den Vorteil, dass wir ein einziges Infrastrukturdepartement haben. Das gibt es sonst nirgends. Dort könnte man alles viel besser koordinieren.
Sie meinen das Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation, dem Bundesrat Albert Rösti vorsteht.
Es braucht eine Gesamtverantwortung. Herr Rösti hat da eine einmalige Chance, für eine bessere Koordination zu sorgen.
Das ginge auf Kosten der Kantons- und Gemeindeautonomie.
Klar. Die Kantone sind sowieso überholt, ein mittelalterliches Konstrukt. Die Politiker sollen aufhören, entlang der Kantonsgrenzen zu denken. Die erste Veränderung ist im Kopf der Schweizer. Wir sind eine Metropolitanregion mit zehn Millionen Einwohnern. Eine grosse grüne Stadt und nicht 26 Kantone.
Wie optimistisch sind Sie?
Nicht so sehr. Der Leidensdruck wird noch zunehmen. Irgendwann sagt der Jura, wir haben kein Wasser mehr, wir können nicht mehr bauen. Man kann zwar noch tiefer bohren, aber das Pumpen und der Transport sind teuer. Wird der Kanton Basel-Landschaft dem Jura dann Wasser schenken? In vielen Kantonen ist die Wasserversorgung nicht einmal kantonal geregelt, sondern kommunal. 11.4 Millionen Menschen wären in der Schweiz möglich, aber nur, wenn man es sehr effizient organisiert und an den Tabuthemen Kantons- und Gemeindeautonomie rüttelt und den Kampf Strasse gegen Schiene über Bord wirft.
Gibt es etwas, das Sie hoffnungsvoll stimmt?
Ohne in Technologieoptimismus zu verfallen: Mit der Digitalisierung haben wir Instrumente, um effizienter zu werden.
Ob solche Systeme, gesamthaft gesehen, wirklich überlegen sind, sei dahingestellt.