In Kobane, an der türkisch-syrischen Grenze, droht ein Blutbad an den Kurden. Die Welt schaut tatenlos zu. Wie geht es Ihnen dabei?
Yusuf Yesilöz: Bei mir persönlich werden Erinnerungen von früher wach: der Giftgasangriff durch Saddam Hussein, bei dem vor über 25 Jahren im Nordirak 6000 Kurden starben. Die Brutalität der türkischen Armee in den letzten 20 Jahren, bei der über vier Millionen Kurden aus über 3000 kurdischen Dörfern verbannt wurden. Wir Kurden fühlen uns vom Westen verraten.
Ausgerechnet ehemalige Gefolgsleute von Saddam sitzen nun an den Waffen des IS, die sie wiederum auf Kurden richten. Was benötigen die Kurden heute?
Wir brauchen sicher kein Mitleid, sondern moderne Waffen. Die Kurden in Syrien brauchen entsprechende Waffen, um sich gegen Angriffe des mit modernsten Waffen ausgerüsteten IS zu verteidigen.
Auch wenn jetzt mehr Waffen geliefert würden – kämen sie für die vom IS eingekesselte Stadt Kobane nicht zu spät?
Bombardements der Alliierten auf IS-Stellungen haben die Lage für die Kurden kurzfristig erleichtert. Doch ich bleibe dabei: Benötigt wird jetzt praktische Hilfe. Und diese liegt leider nur noch in der Lieferung von Waffen.
Haben Sie selber Kontakt zu Menschen, die in Kobane leben?
Ich selber nicht. Ich stamme aus einem kurdischen Dorf innerhalb der Türkei. Die Kurden leben in weit auseinanderliegenden Gebieten. Die heutige Bedrohungslage eint sie aber mehr denn je.
Geeinte Kurden – das wäre eine neue Entwicklung.
Leider. Ob in der Türkei, in Syrien, im Irak oder im Iran – die Kurden verfolgten meist ihre eigenen Partikularinteressen. Doch in ihren Ländern vermochten sie kaum eine eigenständige Politik zu führen, da sie auf Kooperation mit diesen Ländern angewiesen waren. Die Länder schreckten auch nicht davor zurück, die Kurden gegeneinander auszuspielen. Die brutalen IS-Angriffe aber liessen die Kurden zusammenrücken.
Vom Westen aber fühlen sich die Kurden im Stich gelassen. Ist das letztlich Teil ihrer Identität?
Es ist der Grund dafür, dass die Kurden stets anklägerisch auftreten. Es stört mich selber, dass wir das tun mussten und müssen. Den Kurden aber fehlt schlicht ein Götti.
Die Kurden sollen für den Westen den IS aufhalten, zu Hilfe eilt man aber nicht. Womit erklären Sie sich diese Zurückhaltung des Westens?
Der Hauptgrund liegt in der Türkei. Diese ist NATO-Mitglied. Das Land spielt eine besonders fiese Rolle, die es ausspielt, um autonome Kurdengebiete zu verhindern. Das macht die Kurden wütend. Der Westen aber kann die Türkei nicht übergehen und die Kurden direkt unterstützen. Ein weiterer Grund für die Untätigkeit liegt in der ungünstigen geografischen Lage der Stadt Kobane. Militärische Hilfe ist nicht aus dem Nordirak möglich, sondern kann nur über türkischen Boden erfolgen.
Sie wurden in der Türkei geboren, leben seit 27 Jahren in der Schweiz und haben die schweizerische Staatsbürgerschaft. Als was fühlen Sie sich eigentlich persönlich?
Ich bin Kurde und ich bin Schweizer.
Worin zeigt sich Ihre kurdische Identität im Alltag?
Ich fühle kurdisch, ich lebe die kurdische Kultur. Meine Mutter, zum Beispiel, spricht keine andere Sprache als die kurdische. Ich bin auch kurdisch sozialisiert worden.
Was bedeutet kurdisch sozialisiert?
Nehmen Sie das Beispiel Religion. Der Islam bestimmt nicht unser Leben, wie das ein politischer Islam predigt.
Aber Sie sind Muslim?
Ich kann das weder mit Ja noch Nein beantworten, weil ich nicht gläubig bin. Ich stamme aus einer liberal denkenden Familie. Wir sind Sunniten. In meiner Familie war Religion zwar eine Pflicht, sie hat aber den Alltag nie bestimmt.
Interessant ist ja, dass wie Ihre Familie die meisten Kurden Sunniten sind. Das ist der Islamische Staat auch. Warum der Hass?
Die IS-Islamisten betrachten uns Kurden als Nichtgläubige, die man bekämpfen muss. Für Kurden typisch ist aber eine Art Dorfreligion. Nur eine Minderheit betet fünfmal am Tag und macht Ramadan. Der grosse Rest der Kurden geht ganz seiner Arbeit nach. Ihr Alltag wird von der Religion nicht bestimmt. Verhüllte Frauen sah ich erst, als ich in die Schweiz kam.
Die moderne Türkei wurde als säkularer Staat gegründet. Trotzdem wollen die Kurden mehr Autonomie. Worin liegt das Problem?
Einerseits bei der Staatsgründung: Sie sah ein Volk vor, die Türken, und nur eine Sprache, Türkisch. Das, obwohl das Osmanische Reich, aus dem die Türkei entstanden ist, ein Vielvölkerreich war. Die Republikaner haben den Kurden die Sprache und die Identität verweigert. Seit zehn Jahren kommt hinzu, dass Islamisten an der Macht sitzen.
Schöpfen denn die Kurden mit dieser neuen Situation auch neue Hoffnung auf einen eigenen Staat?
Man hört viele Stimmen: Die einen erkennen die Gelegenheit dazu. Ich selber bezweifle aber, dass ein kurdischer Staat überleben könnte. Die Kurden sind geografisch über weite Gebiete verteilt.
Worin läge aus Ihrer Sicht eine Lösung?
Nicht in einem Kurdenstaat, sondern in einer Teilautonomie der Kurden innerhalb Syriens und jener innerhalb der Türkei. Ein geeintes Kurdistan in dieser Geografie hat keine Chance.