Sie mussten bisher zwar Steuern und AHV bezahlen. Wenn Sexarbeiterinnen aber ihre Forderungen gegenüber einem Freier vor Gericht geltend machen wollten, hatten sie schlechte Karten. Das Bundesgericht bezeichnete Prostitution in älteren Urteilen als sittenwidrig; und gemäss Obligationenrecht ist ein Vertrag, der gegen die guten Sitten verstösst, nichtig.
In einem neuen Urteil hält das Bundesgericht nun fest, dass Verträge zwischen Prostituierten und Freiern nicht mehr «uneingeschränkt als sittenwidrig» bezeichnet werden können. Beraterinnen von Sexarbeiterinnen fällt damit ein Stein vom Herzen. Rebecca Angelini von «ProCoRe», dem nationalen Netzwerk von Beratungsstellen für Sexarbeitende, sagt: «Dieses Urteil ist ein Meilenstein. Es war seit Jahrzehnten überfällig.»
Sexarbeitende gingen ihrem Gewerbe oft unter prekären Bedingungen nach. Es bestehe ein Machtgefälle zwischen Prostituierten auf der einen Seite und Freiern und Salonbetreibern auf der anderen Seite. «Das Urteil führt nun dazu, dass die Verhandlungsposition der Sexarbeitenden gestärkt wird», sagt Angelini.
Ähnlich sieht es Doro Winkler von der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration. Sie sagt: «Es war höchste Zeit, diesen alten Zopf endlich abzuschneiden.» Die bisherige Situation beschreibt sie als «unhaltbar», weil die Rechtssicherheit fehlte.
Der Milieu-Anwalt und Zürcher SVP-Kantonsrat Valentin Landmann begrüsst das Urteil ebenfalls. Er spricht von «kuriosen und perversen» Entscheiden, welche Gerichte noch bis vor wenigen Jahren getroffen hätten. Er will die Sittlichkeit ganz aus den Gesetzen streichen.
«Entweder ist etwas erlaubt oder illegal», sagt Landmann. Politische Vorstösse zur Verbesserung der rechtliche Situation von Prostituierten hatten bisher zwar breite Unterstützung, wurden aber nicht umgesetzt. Der Kanton Bern lancierte 2012 unter dem Titel «Prostitution ist nicht sittenwidrig» eine Standesinitiative. Das Geschäft wurde im Parlament abgeschrieben. Gerichte sollten entscheiden, wann ein Vertrag unsittlich sei, hiess es. Auch der Bundesrat teilt diese Ansicht.
Von den Gerichten kamen entsprechende Signale. Das Bezirksgericht Horgen ZH entschied im Juli 2013, dass Forderungen einer Prostituierten gegenüber ihrem Freier nicht gegen die Sittlichkeit verstossen.
Rebecca Angelini von «ProCoRe» weist darauf hin, dass das Urteil zwar ein Durchbruch sei für Sexarbeitende. Es würden damit aber nicht alle Probleme gelöst. «In der Coronakrise merken wir noch deutlicher, wie Sexarbeitende diskriminiert werden.» So sei die Sexarbeit in einigen Kantonen derzeit verboten, andere körpernahe Dienstleistungen aber weiterhin erlaubt. Bis zur tatsächlichen Gleichstellung sei es noch ein weiter Weg.
Angelini begrüsst, dass Prostitution nicht in einem speziellen Gesetz geregelt wird. Es handle sich um eine Erwerbsarbeit, für die die gleichen Regeln gelten sollen wie für andere Gewerbe.
"Ein Mann, der einer Frau das für Sex mit ihr versprochene Geld nicht zahlte, ist wegen Betrugs verurteilt worden. Sein Argument, ein Prostitutionsvertrag sei sittenwidrig und begründe deshalb keinen Anspruch auf die Zahlung, hielt vor Bundesgericht nicht stand.", NZZ, 04.02.2021