Man könnte meinen, es gehe nur um Linkslinke gegen den Rest. Beim Streit zwischen der Stadt Zürich mit seinem Kanton geht es aber mehr: um Grundrechte und die Frage, wer sie wie weit einschränken darf. Und vor allem warum.
Alles nahm seinen Lauf am vergangenen Wochenende.
Wir erinnern uns: In der Stadt Zürich riefen Frauen, intergeschlechtliche, trans, non-binäre und queere Menschen (kurz Flint) zu Kundgebungen auf. Anlass war der bevorstehende 8. März, der als feministischer Kampftag Jahr für Jahr gefeiert wird. In pandemischen Zeiten wurde das für die Behörden zum Balanceakt.
Denn grundsätzlich gilt: Es darf demonstriert werden. Dieses Grundrecht erachtet auch der Bundesrat als wichtig. Er verbietet Menschenansammlungen im öffentlichen Raum von mehr als 15 Personen. Wird aber demonstriert, gibt's keine Limite. Der Bund schreibt dazu wörtlich:
Kantone können aber «im Übrigen» weitere Regeln aufstellen. Wichtig sei aber, dass «auch bei der Pandemiebekämpfung die angemessene Ausübung von zentralen Grundrechten gewährleistet sein muss».
Die Regeln des Bundes sind also klar: Erlaubt sind Menschenansammlungen bis 15 Personen, für Kundgebungen gibt's keine solche Begrenzungen.
Der Zürcher Regierungsrat las das jedoch anders. Seit Monatsbeginn verbietet der Kanton alle Menschenansammlungen mit mehr als 15 Personen. Als Menschenansammlung sieht er auch politische Kundgebungen.
Und das gilt. Zumindest lautet so die Interpretation derjenigen in der Stadt Zürich, die dieses Demo-Verbot umsetzen müssen: die Stadtpolizei und die Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart (Grüne).
So hiess es etwa von der Polizei am Wochenende: «Wir dulden keine verbotenen Menschenansammlungen und setzen das Veranstaltungsverbot durch.» Die geltenden Gesetze und Verordnungen müssten im Rahmen der Verhältnismässigkeit durchgesetzt werden. Ein Sprecher wiederholte dies im Gespräch mit watson.
Einwände, wonach es doch Grundrechte zu beachten gebe, kommentierte der Sprecher nicht. Weitere Gespräche mit Ordnungshüterinnen und Ordnungshütern zeigen jedoch: Manchen Uniformierten sei es sehr wohl bewusst, dass es diesen rechtlichen Knatsch gibt. Und dass die Grundrechte vom Kanton stärker beschränkt würden als erlaubt. Der Befehl zum Handeln käme aber von der Einsatzleitung.
Unter der Zusicherung der Anonymität sagt eine Person der Stadtpolizei: «Wir schwören, Verfassung, Gesetze und Dienstanweisungen zu achten. Wenn sich diese drei beissen, wird es immer schwierig.»
Das Resultat zeigte sich am Samstag: Die Polizei setzte zunächst auf Dialog, dann auf Kontrolle. Der repressive Einsatz führte zu Zusammenstössen, einer Bissattacke und Widerstand, bis sich das ganze hochschaukelte und es zu Reizstoff-Einsätzen, vorläufigen Festnahmen und einer Prügelattacke gegen eine am Boden liegende Frau. Der letzte Vorfall wird von der Staatsanwaltschaft nun untersucht.
#Polizeigewalt an der feministischen Demo zum 8. März in #Zurich! Eine 19-Jährige wurde von den Cops mit Reizgas angegriffen und während 5 Minuten zu Boden gedrückt. Ein Beamter schlug mehrmls auf den Kopf der Aktivistin ein. Solidarität mit den Betroffenen! #8M2021 #8mrzunite pic.twitter.com/YKZSrdAEVV
— ajour magazin (@ajour_mag) March 6, 2021
Als am Montag dann der 8. März war, kam die Gegenreaktion: Rund hundert Personen organisierten einen gewaltfreien Sitzstreik vor dem Polizeigebäude auf der Zürcher Rudolf-Brun-Brücke. Die Polizei riegelte nicht nur die Urania-Wache komplett ab, sie kontrollierte mehrere Personen, verteilte Wegweisungen und erstattete Anzeigen.
Dies geht aus der Medienmitteilung der Stadtpolizei hervor, wo der gewaltfreie Sitzstreik als «verbotene Veranstaltung» bezeichnet wird.
Eine friedliche Demonstration als «verbotene Veranstaltung» zu bezeichnen? Das ging auch der Grünen Stadträtin Karin Rykart zu weit. Am Mittwochabend teilte sie deshalb im Parlament aus: «Die kantonalen Vorgaben bezüglich Demonstrationen sind in der grössten Stadt der Schweiz schlicht nicht umsetzbar, und sie sind auch aus epidemiologischer Sicht nicht nachvollziehbar.»
Rykarts Verärgerung kommt daher, dass sie als Sicherheitsvorsteherin für die Arbeit der Stadtpolizei politisch verantwortlich ist. «Ich finde, man müsste sie lockern – lieber heute als morgen», so ihre Forderung. Sie griff dazu auch schon zum Telefon und rief ihren kantonalen Amtskollegen Mario Fehr (SP) an. Dieser verwies gegenüber der «NZZ» auf den Bund. Im Bericht ist der Satz zu lesen: «Solange der Bundesrat nicht Versammlungen mit mehr als 15 Personen ermögliche, werde man in Zürich auch keine Grossdemonstrationen zulassen.»
Fehr und seine Regierungskolleginnen und -kollegen irren sich jedoch, sollte die «NZZ» ihn richtig zitiert haben. Der Bund unterscheidet nämlich – wie weiter oben ausgeführt – ausdrücklich zwischen Menschenansammlungen, politischen Veranstaltungen und Kundgebungen. Und letztere bleiben aus Sicht des Bundes erlaubt – egal, ob 15, 100 oder 5000 Personen teilnehmen.
Dass die linken Parteien AL, Grüne und SP das Zürcher Demo-Verbot als «verfassungswidrig» bezeichnen, überrascht nicht. In der Diskussion schaltet sich nun aber auch Benjamin Fischer, Präsident der SVP-Kantonalpartei ein – und unterstützt mit seinem Statement die Grundrechts-Position der Linken.
Fischer verlangt im Telefongespräch mit watson zu erwähnen, dass er dies nicht «unfreiwillig» tue. «Die Grundrechte gelten. Punkt. Und sie gelten unabhängig davon, ob Linke auf die Strasse gehen, oder ob es Skeptiker der Covid-Massnahmen sind. Sie können mich so zitieren.» Er betont jedoch, dass das aus seiner Sicht ein Nebenschauplatz sei. «Es ist typisch, dass sich die linke Stadt erst jetzt über Demo-Verbote ärgert, als das eigene Milieu am Protestieren gehindert wurde», sagt Fischer.
Die Kritik seiner Partei gehe weiter: Sämtliche Freiheitseinschränkungen müssten fallen, damit die Pandemie mit Schutzkonzepten statt Verboten in Schach gehalten werden könne. «Da steht nicht bloss Mario Fehr, nicht bloss der Regierungsrat, sondern auch der Bundesrat in der Verantwortung.»