Seit Jahren klagen die Bundesrichter über Überlastung. Im Geschäftsbericht 2018 steht: Die Geschäftslast bewege sich «wie im Vorjahr auf höchstem Niveau.
Zwar erledigte das Gericht mehr Fälle als 2017: 8040 statt 7782, womit «ein neuer Rekordwert erreicht wurde», wie die Richter unter dem Vorsitz von Ulrich Meyer (SP) schreiben. Das sei aber «eine Parforceleistung» gewesen, «unter Mobilisierung der letzten Kräfte».
Die hohen Richter können auf baldige Entlastung hoffen. Eine Revision des Bundesgerichtsgesetzes (BGG) ist unterwegs. Sie wurde massgebend vom Bundesgericht vorgespurt und passierte bereits Bundes- und Nationalrat. Im Dezember ist der Ständerat am Zug.
Nicht mehr Personal ist dabei die Losung, sondern Reduktion der Arbeitslast, höhere Hürden für Beschwerden. Die 38 Richterinnen und Richter sollen künftig «vor allem mit den juristisch bedeutenden Fällen befassen», wie Unterlagen zu entnehmen ist. Nur: Ist das auch im Sinn und Interesse der Menschen, die Recht suchen?
Die Revision stiess schon in der Vernehmlassung auf breiten Widerstand etwa bei Kantonen, Gerichten, Rechtswissenschaft, Nichtregierungsorganisationen, Anwälten. Jetzt zeigen Recherchen: Bekannte Professoren und andere Experten aus der ganzen Schweiz und allen Rechtsgebieten opponieren zunehmend gegen die Revision. Sie warnen den Ständerat davor, den Zugang zum Bundesgericht massiv zu erschweren, in vielen Bereichen gar zu verhindern.
So bringt Rainer Schweizer, emeritierter Professor für öffentliches Recht an der Uni St. Gallen, den bei vielen Anwälten und Rechtsprofessoren verbreiteten Unmut auf den Punkt: «Man soll über Entlastungsmassnahmen für das Bundesgericht diskutieren, aber mit dem Blick auf die gesamte Gerichtsorganisation und auch mit Prüfung der betrieblichen Abläufe.»
Zudem sei «eine gewisse Erhöhung der Zahl der Richterinnen und Richter, die jetzt schon nach Gesetz statt wie bisher 38 bis zu 45 betragen kann, ohne Probleme möglich. Die künftige Reform darf nicht so einseitig zu Lasten der rechtssuchenden Menschen gehen.»
Berechnungen zeigen: Etwa ein Fünftel der Beschwerden ans Bundesgericht wäre künftig nicht mehr möglich. Von den gut 8000 Beschwerden, die 2018 ans Gericht gingen, wären unter neuem Recht über 1500 nicht angenommen worden.
Weil sich das Bundesgericht künftig in vielen Fällen nur noch auf Beschwerden einlassen will, die Rechtsfragen von grundsätzliche Bedeutung aufwerfen. Rechtsbereiche, in denen der Zugang eingeschränkt werden soll:
Umstritten ist bei Fachleuten auch die Auswahl dieser Rechtsgebiete, sie gilt als zufällig und mutmasslich sogar politisch gefärbt, jedenfalls kaum durch sachliche Anforderungen begründet. Zudem halten verschieden Kritiker die Definition «Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung» für einen als Gummibegriff. Auch hier werde dem Bundesgericht zu viel Spielraum überlassen.
Kritiker bemängeln insgesamt, dass eine ganze Reihe von Fällen künftig nur noch von einer einzigen Gerichtsinstanz beurteilt werden sollen. Weil das Bundesgericht sich dann nicht mehr zuständig sieht, gäbe es keine Beschwerdemöglichkeit mehr.
Streit gibt es auch um die subsidiäre Verfassungsbeschwerde. Sie erlaubt es, gewisse kantonale Entscheide anzufechten, falls sie verfassungsmässige Rechte verletzen. Bundesrat und Nationalrat wollen die Streichung nicht.
Das Bundesgericht indessen will sie weghaben. Es drohte im letzten Geschäftsbericht: «Sollte es nicht gelingen, die subsidiäre Verfassungsbeschwerde aus der Vorlage zu entfernen, lehnt das Bundesgericht die Vorlage insgesamt ab.» Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde macht heute 5 Prozent der Geschäftslast des Bundesgerichts aus.
Wie das Seilziehen ausgeht, scheint offen. Dem Vernehmen nach will sich das Bundesgericht nächste Woche noch einmal mit der Sache befassen. Auch im Gericht selbst gibt es beträchtlichen Widerstand. (aargauerzeitung.ch)