Tausende Katzen werden in der Schweiz jährlich getötet – heimlich
Esther Geisser ist Präsidentin der Tierschutzorganisation NetAP. Und sie ist besorgt über die Zunahme an Streunerkatzen in der Schweiz. Also Katzen, die keinen festen Platz haben, kein Zuhause, für die niemand verantwortlich sein will, die auf sich alleine gestellt sind.
Hierzulande leben gemäss Geissers Schätzungen 300'000 heimatlose Katzen. Zahlreiche davon wurden einfach ausgesetzt, andere stammen von Haus- oder Hofkatzen ab, die sich unkontrolliert vermehrt haben. Mit dramatischen Folgen: Jährlich werden gemäss NetAP mindestens 100'000 dieser Katzen getötet. Geisser sagt es so: «Eine Populationskontrolle von Katzen mittels Tötung ist in der Schweiz leider immer noch alltäglich».
Die Situation werde jedes Jahr schlimmer: Zahlreiche Streunerkatzen verenden qualvoll an Krankheiten oder den Folgen von Unfällen. Ein Elend, das zu verhindern wäre, wie diverse Schweizer Tierschutzorganisationen immer wieder betonen.
«Tötungen geschehen im Verborgenen»
Dieser Meinung ist auch Yasmine Wenk von der Tierschutzorganisation Vier Pfoten. Sie zählt Probleme auf, die nebst anderen mit dem Anstieg der Streunerkatzen auftreten: Konkurrenz um Nahrung, schnellere Ausbreitung von Krankheiten, Tausende leidende Katzen. Erschreckend dabei sei, dass solche Streuner oft vergiftet, erschlagen oder ertränkt würden. Also auf rechts- und tierschutzwidrige Art getötet. Genaue Zahlen liegen gemäss Wenk nicht vor. Denn: «Tötungen geschehen meist im Verborgenen.»
Esther Geisser sind solche Situationen ebenfalls bekannt. Sie nennt ein Beispiel: NetAP wird zu einem Einsatz in einer Gemeinde gerufen, nachdem eine Familie auf dem Grundstück eine fremde Katze mit mehreren Säuglingen gefunden hat. Die Suche nach den Besitzern führt Geisser und ihr Team auf einen Bauernhof. «Der Landwirt hat nur gemeint: ‹Das sollten keine unserer Katzen sein. Wir töten die Jungen regelmässig, damit sie sich nicht unkontrolliert vermehren.›»
Solche Begegnungen lassen Geisser immer wieder sprachlos zurück. In der Schweiz gebe es die Illusion, dass solche Tötungen nicht mehr gemacht werden. Eine Wunschvorstellung, mehr sei das nicht. Die Tierheime seien fast immer ausgelastet, grösstenteils mit Katzen. Die NetAP-Präsidentin betont jedoch, dass das vor allem auf Tierschutz-Tierheime zutreffe: «Hat ein Tierheim immer Platz, resultiert dies leider oft daraus, dass sie Katzen, die zu grossen finanziellen Aufwand verursachen würden, einfach einschläfern.»
Katze gilt als «Sache» des Bauern
Wie kann es sein, dass solche Katzentötungen in der Schweiz immer noch gang und gäbe sind? Rechtsprofessor Peter V. Kunz ordnet den Fall im genannten Beispiel ein: Entscheidend sei, dass die Tiere vom Bauern selber getötet werden, also vom Eigentümer der Katzen. «Insofern hat er eigentlich eine freie Verfügungsmacht über die Katze.» Wenn die Tiere von einer Drittperson, also etwa von einem Passanten, getötet worden wären, dann wäre es strafrechtlich gesehen eine Sachbeschädigung. Denn eine Tiertötung werde in der Schweiz nicht als solche belangt. Die Katze gelte in dem Fall als «Sache» des Bauern.
Ist die Tat für den Bauern juristisch also gar nicht relevant? «Es stellt sich die Frage, wie der Bauer die Katzen tötet», sagt Kunz. Wenn das Tier beispielsweise ertränkt werde, also dabei leiden müsse, dann handle es sich um Tierquälerei. Dafür könne der Landwirt juristisch belangt werden. Wenn er die Katzen jedoch mit einem Genickschuss tötet und diese dabei nichts spüren, könne man es höchstens als mutwillige Tötung sehen. «Mir ist in der Schweiz allerdings kein solcher Präzedenzfall bekannt», sagt Kunz.
Nationalrat lehnte Motion zur Kastrationspflicht ab
Um dieser Tragödie ein Ende zu setzen, startete NetAP 2016 die Kampagne «Kastrationspflicht für Freigänger-Katzen in der Schweiz». Das Herzstück war eine Petition, hinter der letztlich über 150 Schweizer Tierschutzorganisationen und -vereine standen. Es kamen mehr als 115'000 Unterschriften zusammen, die 2018 dem Parlament eingereicht wurden. Die Zürcher FDP-Nationalrätin Doris Fiala doppelte mit einer Motion zum Thema nach. Sowohl die Petition als auch die Motion wurden vom Parlament mit der Begründung, eine Kastrationspflicht sei «unverhältnismässig», abgelehnt.
Der Nationalrat berief sich dabei auf ein Schreiben des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV), das gemäss Geisser aber fehlerhaft und schlecht begründet war. NetAP gegenüber habe der BLV dies sogar zugegeben. Dass es in der Schweiz ein Katzenelend gebe, sei weder vom BLV noch von den politischen Gremien bestritten worden.
Der BLV geht auf Anfrage nicht auf den Brief ein und schreibt: «Gemäss Tierschutzverordnung müssen Haltende zumutbare Massnahmen treffen, um zu verhindern, dass sich ihre Tiere übermässig vermehren.» Sie würden generell empfehlen, Katzen vor dem ersten Freigang zu kastrieren.
Sensibilisierung der Bevölkerung soll Besserung schaffen
Gesetzlich gesehen ist eine Kastration laut Peter V. Kunz eine freiwillige Angelegenheit. Eine Pflicht ist in den Augen des Juristen schwer einzuführen, da sie kaum kontrollierbar wäre. Denn: «Anders als bei Hunden gibt es in der Schweiz keine Registrierung für Katzen.» Ausserdem müsse man zwischen Freigänger- und Hauskatzen unterscheiden.
In Städten würden viele Katzen ausschliesslich in der Wohnung gehalten. Aus Angst, dass sie sonst überfahren werden. In einer solchen Situation ist laut Kunz eine Kastrationspflicht unnötig, weil das Tier nicht mit anderen Tieren in Berührung kommt. Eine Pflicht müsste somit vorrangig für Freigängerkatzen gelten. «Daher ist es politisch so schwer, ein Gesetz oder eine Pflicht einzuführen», sagt Kunz.
Tierschutzorganisationen brauche es nicht wegen der städtischen Verhältnisse, merkt Kunz an, sondern denen in ländlicheren Gegenden. Daher sage er bereits seit Jahren, dass es sinnvoll wäre, wenn der Bauernverband eine Selbstregulierung vorsehen würde. Wenn dieser seinen Mitgliedern empfehlen würde, die unkontrollierte Vermehrung der Katzen nicht zuzulassen, wäre das ein wichtiger Schritt. Solche privaten Empfehlungen würden in anderen Bereichen, wie etwa der Finanzaufsicht, schliesslich auch funktionieren. Warum also nicht beim Tierschutz?
Sowohl Peter V. Kunz als auch Esther Geisser und Yasmine Wenk appellieren an die Katzenhalterinnen und -halter, ihre Tiere zu kastrieren und zu chippen. Würde das konsequent gemacht werden, wäre das ein erster Schritt zur Problemlösung.
Denn gemäss Wenk ist es nicht immer hilfreich, Streunerkatzen in ein Tierheim zu bringen. «Für sie bedeutet dieser Aufenthalt grossen Stress», sagt sie. Ausserdem seien ehemalige Streuner schwer zu vermitteln, weil sie sich ein Zusammenleben mit Menschen nicht gewohnt seien. Die wenigsten würden nach einer scheuen, ängstlichen Katze suchen. (aargauerzeitung.ch)
