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SRF Reporter über Pädophilie: «Ich will als Mensch gesehen werden»

Einer von 100 Männern ist pädophil – aber längst nicht alle werden straffällig (Symbolbild).
Einer von 100 Männern ist pädophil – aber längst nicht alle werden straffällig (Symbolbild).bild: Shutterstock

«Es wird einen Suizid geben, wenn das rauskommt» – der Horror, pädophil zu sein

Pädophilie ist auch in der Schweiz noch ein Tabuthema. Die SRF-Sendung «Reporter» hat sich mit Betroffenen getroffen und mit ihnen geredet. Entstanden ist ein eindrücklicher Kurzfilm.
11.11.2021, 05:2811.11.2021, 14:27
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Es ist ein Tabuthema wie kaum ein anderes in der Schweiz: Pädophilie. Wer eine solche Neigung hat, muss mit sozialer Ausgrenzung und Todesdrohungen rechnen. Dabei werden längst nicht alle Pädophilen straffällig.

Monika Egli-Alge, Fachpsychologin für Psychotherapie weiss, wovon sie spricht: Sie war eine der ersten in der Schweiz, die pädophilen Menschen präventive Therapie anbot. Ihre Hauptaussage:

«Betroffene sind nicht schuld an den sexuellen Gefühlen, aber verantwortlich am sexuellen Verhalten.»

Die SRF-Sendung «Reporter» hat sie deshalb begleitet und konnte im Zuge der Recherche mit zwei Pädophilen und Experten sprechen.

Anlaufstellen für Opfer von sexueller Gewalt
Sexuelle Übergriffe können in den unterschiedlichsten Kontexten stattfinden. Hilfe im Verdachtsfall oder bei erlebter sexueller Gewalt bieten etwa die kantonalen Opferhilfestellen oder die Frauenberatung Sexuelle Gewalt. Für Jugendliche oder in der Kindheit sexuell ausgebeutete Erwachsene gibt es in Zürich die Stelle Castagna. Betroffene Männer können sich an das Männerbüro Zürich wenden. Wenn du dich sexuell zu Kindern hingezogen fühlst oder jemanden kennst, der diese Neigung hat, kann dir diese Stelle weiterhelfen.

Die Zahlen

Damit man die Problematik auch zahlenmässig richtig versteht, folgen hier die wichtigsten Zahlen zu Pädophilie.

  • Etwa ein Prozent der Männer ist pädophil, bei den Frauen weiss man es nicht so genau. Hier fehlen entsprechende wissenschaftliche Studien. Klar ist aber, dass auch Frauen betroffen sind.
  • Bei etwa der Hälfte der Männer mit einer Pädophilie kommt es im Laufe ihres Lebens zu einer Straftat. Das heisst entweder begehen sie einen Missbrauch oder konsumieren Missbrauchsabbildungen (im Volksmund Kinderpornografie).
  • Jedes 5. Mädchen und jeder 13. Junge erlebt gemäss Studien einmal im Leben einen sexuellen Übergriff. Dabei ist die Hälfte der Täter nicht pädophil.

Der Einzelgänger

Pascal* ist 30 Jahre alt. Als er 10 Jahre alt war, verliebte er sich in der Schule in einen Mitschüler. Später verliebte er sich erneut in einen Jungen. Das Problem: Er war 16-jährig, der andere Junge immer noch 10. Pascal merkte: Irgendetwas ist da falsch.

Und es entwickelte sich zu einem Muster: Pascal erzählt im SRF-Film, dass er sich in Jungen zwischen 7 und 13 Jahren verliebe. Mit Nachdruck sagt er: «Ich verliebe mich nur, alles andere ist tabu.»

Er fände Jungen schön, sagt er, gleichzeitig verspüre er aber nicht den Wunsch, mit ihnen Sex zu haben. «In der Fantasie schon, aber das bleibt Fantasie. Für mich ist ganz klar, dass das in der Fantasie bleibt.»

Laut eigenen Angaben ist Pascal nie Täter geworden. Will heissen: Er hat keine Delikte begangen, weder einen sexuellen Übergriff auf ein Kind, noch Missbrauchsabbildungen konsumiert.

Psychotherapeutin Monika Egli-Alde im Gespräch mit einem Betroffenen.
Psychotherapeutin Monika Egli-Alde im Gespräch mit einem Betroffenen.bild: srf reporter

Pascal lebt alleine und arbeitet in einem handwerklichen Beruf. Seit 14 Jahren geht er zu Egli-Alge in Therapie. Für ihn sei klar: «Ich habe das, was ich habe. Aber ich will damit keinem Kind weh tun. Von mir kommt keine Gefahr. Ich trinke lieber ein Bier oder schlafe, als ein Kind zu missbrauchen.»

Wie geht man mit so einer Sexualität um, die man nie ausleben kann? «Es ist natürlich zuerst brutal, das ist wirklich so. Aber ich habe gelernt, dass ich es beherrschen kann. Oder wenn ich es selber nicht schaffe, dass ich Hilfe holen kann.»

Aber wie macht man das? Sich beherrschen und die Sexualität unterdrücken? «Es ist ein Prozess, seine Sexualität zu beherrschen. Es gibt Selbstbefriedigung, das ist wirklich das einzige Ventil, das man hat. Man findet sich damit ab und nimmt es als einen Teil an.»

Was fehlt ihm am meisten? «Mir fehlt halt schon manchmal ein bisschen die Zuneigung. Es ist ein bisschen komisch, ich weiss nicht was Liebe ist. Ich habe nie richtig dieses Gefühl erlebt. Ich hatte zwar mal eine Freundin, aber das war eher zweckmässig und halt auch keine Liebe. Ich weiss wirklich nicht richtig, was das ist.»

Pascal würde eigentlich gerne öffentlich über seine Veranlagung reden, er fürchtet sich allerdings vor den Konsequenzen: «Ich will als Mensch gesehen werden, der das hat. Es ist mein Ziel zu sagen: Das bin ich. Ich bin so wie ich bin. Ich kann nichts dafür. Ich möchte kein Mitleid, das bringt mir nichts. Aber dass man mich versteht und mir nicht grade den Tod wünscht.»

Das Paar

Martin* ist um die 30, seine Partnerin Christina* einige Jahre älter. Psychologin Egli-Alge hat das Paar in der Krisensituation kennengelernt, als Martin Christina seine Veranlagung gestanden hat. Er hat nämlich eine nicht ausschliessliche Hebephilie. Das bedeutet, dass Martin vor allem vom frühpubertären Mädchenkörper erregt wird. Aber nicht nur: Er kann auch den Körper von einer erwachsenen Frau anziehend finden und sich in sie verlieben.

Im Gegensatz zu Pascal ging Martin seiner Präferenz nach und wurde straffällig. Er konsumierte Kinderpornografie und wurde vor fünf Jahren deswegen verhaftet. Er kam für ein halbes Jahr in Untersuchungshaft und danach in Therapie. Danach sei er nicht mehr straffällig geworden, sagt er.

Das Bedürfnis, seine Präferenz in der Realität auszuleben, verspürte Martin laut Eigenaussage nie: «Meine moralische Seite in mir drin hat das nie zugelassen. Bei mir gab es immer wie eine virtuelle und eine reale Welt.»

Kurz nach dem Gefängnisaufenthalt lernte er dann seine jetzige Partnerin Christina kennen. Nach 10 Monaten war er so weit, ihr von seinem Geheimnis zu erzählen.

Kritisch war für Martin vor allem der Moment, wann er Christina von seiner Situation erzählt. Zuvor seien bereits mehrere Beziehungen daran gescheitert, dass Martin nicht davon erzählen konnte.

«Ich habe gewusst, dass es mich erdrückt, wenn ich nicht davon erzähle. Es ist nicht lustig, wenn man so ein Geheimnis vor der Partnerin hat, wenn man zusammen wohnt.»

Man könne es schon verheimlichen, «aber ab diesem Moment baut die Beziehung auf einer Lüge auf.» Also blieb nur die Beichte. Denn auch Christina spürte, dass Martin ihr irgendetwas verheimlichte.

«Wenn ich es ihr sage, kann sie mein Leben zerstören. Meine Grundhaltung ist so: Es wird einen Suizid geben, wenn das rauskommt.»

Lass dir helfen!
Du glaubst, du kannst eine persönliche Krise nicht selbst bewältigen? Das musst du auch nicht. Lass dir helfen.
In der Schweiz gibt es zahlreiche Stellen, die rund um die Uhr für Menschen in suizidalen und depressiven Krisen da sind – vertraulich und kostenlos.

Die Dargebotene Hand: Tel 143, www.143.ch
Beratung + Hilfe 147 für Jugendliche: Tel 147, www.147.ch
Reden kann retten: www.reden-kann-retten.ch

Schwierig war es aber auch für seine Partnerin. Christina erzählt:

«Für mich ist eine Welt zusammengebrochen in diesem Moment. Ich habe einen Mann kennengelernt, den ich mir immer gewünscht habe. Sehr fürsorglich, sehr liebevoll, zärtlich, einfühlsam. Aber jetzt ist es so: Man nimmt es mir weg. Weil das geht ja gar nicht beides. Er kann doch nicht diese Präferenz haben und gleichzeitig eine ältere Frau lieben.»

Trotzdem sei es danach relativ schnell klar gewesen, dass die beiden zusammenbleiben wollen.

Ihr seien auch Tausende von Fragen durch den Kopf gerast: «Ich werde älter, willst du das überhaupt? Oder brauchst du mich nur als Objekt, dass du deine sexuelle Seite in einer Normalbeziehung ausleben kannst?» Sie habe sich eine Zeit lang auch wie missbraucht gefühlt.

Auch für Martin war es nicht einfach: «Es hat schon eine Weile gedauert, bis ich mich so weit lösen konnte, wieder an eine solche Sexualität zu gewöhnen, oder zu geniessen. Wenn man so lange in einem solchen Loch drin steckt, verlernt man das andere. Und das hat eine Weile gedauert. Aber inzwischen können wir wirklich sagen, dass das für uns so stimmt.»

Für Christina stimmt es ebenfalls so: «Wir haben so viele Sachen, die wir teilen, die wir zusammen erleben wollen. Es ist wahrscheinlich für alle unverständlich, aber mit dem kann ich leben.»

So wie Pascal ist auch für Martin klar, dass eine Enttabuisierung stattfinden sollte. Existieren tut Pädophilie: «Man kann nicht wegschauen, das geht einfach nicht.» Er wünscht sich:

«Wenn man heute öffentlich darüber redet, ruiniert man sich. Einfach, weil die Gesellschaft noch nicht so weit ist. Aber ich bin überzeugt, dass wen man offener darüber redet – ich sage nach wie vor, man soll kritisch darüber reden und die Taten auch wirklich verurteilen, das ist wichtig – aber einfach als Gesellschaft offener darüber reden, und dass Menschen mit dieser Präferenz nicht Angst haben müssen, dass man es hat, sondern dass man sagen kann, ja es gibt genügend Fachstellen wo man hin kann und die einem helfen, mit dieser Neigung umzugehen.»

Die Experten

Das Thema, dass die Liebe und Zuneigung fehlt, bleibe bei vielen Betroffenen aktuell. Es gebe fast mehr Einschränkungen als Möglichkeiten, glücklich zu sein. Dabei gehe es nicht mal wirklich um Sexualität, sondern vor allem auch um die Beziehung, erzählt Psychotherapeutin Egli-Alge.

Für sie ist klar, dass man das ganze wertfrei anschauen müsse. Fantasien und Gedanken seien nicht verboten, die gehören einem selbst und schaden noch niemandem. Sobald sich diese Gedanken aber in einer Handlung manifestieren, werde es problematisch. Sobald diese «Präferenzbesonderheit» einen Effekt habe, sobald jemand diese Gedanken auslebe – seien es auch nur kleine Schritte – dann ist es verboten. Sie sagt:

«Kein Delikt ist das oberste Ziel. Wir verurteilen Delikte, wir verurteilen Taten, und zwar alle. Diese Haltung ist völlig klar. Aber Personen, Persönlichkeiten als Menschen, die nehmen wir respektvoll in Empfang. Was wir sehr würdigen ist der Schritt, etwas zu unternehmen, dass man keine Delikte macht. Das finde ich dermassen stark.»

Für Marc Graf, der Direktor der Klinik für Forensik der UPK Basel, hat die Schweiz in Sachen Pädophilie-Prävention noch Arbeit vor sich:

«Ich habe die traurige Erfahrung gemacht, dass ich nicht nur einen Patienten an Suizid verloren habe. Es ist nötig, dass wir diesen Menschen helfen. Und es ist sinnvoll, weil es wirksam ist.»

Graf zieht eine Analogie zur Situation am Platzspitz-Platz in Zürich mit der offenen Drogenszene der 90er Jahre:

«Ein Paradigmenwechsel ist nötig. Man muss weg von der reinen Repression, die es notabene unbedingt braucht im Bereich der Paraphilien. Strafverfolgung und Strafandrohung braucht es, aber das alleine reicht nicht. Es braucht auch gute Diagnostik und Hilfestellung. Und dort sind wir noch deutlich im Hintertreffen.»

*Alle Namen wurden zwecks Anonymisierung abgeändert.

Anlaufstelle für Pädophile
«Kein Täter werden» – Schweiz bietet ein kostenloses und durch die Schweigepflicht geschütztes Behandlungsangebot für Menschen, die therapeutische Hilfe suchen, weil sie sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen und darunter leiden.

Hier geht's zur Webseite.

(jaw)

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175 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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raues Endoplasmatisches Retikulum
11.11.2021 06:26registriert Juli 2017
Diese Arbeit muss unbedingt weiter vorangebracht und unterstütz werden.
23510
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Pi ist genau Drei!
11.11.2021 07:18registriert Februar 2017
Pädophillie sollte enttabuisiert werden. Alleine dieser Satz ist f7r mich als Vater und natürlich als nicht pädophiler Mensch eine Provokation. Muss aber auch sagen, dass ich es nun differenzierter sehe. Vielleicht würde sich die Sicherheit der Kinder sogar erhöhen wenn die Hemmschwelle für nicht straffällig gewordene Pädophile gesenkt würde. Und letztlich haben ja auch diese Menschen ein Recht auf ein würdiges Leben ohne ständige Angst das Gesicht zu verlieren.
20029
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stormcloud
11.11.2021 09:32registriert Juni 2021
Bin selbst auch Opfer und leide noch heute, 50 Jahre später daran.
Es hat mein Leben negativ verändert und mir Ängste, Leiden und Depressionen beschert. Daher fällt es mir schwer, für die Täter Verständnis aufzubringen, möchte sie aber auch nicht pauschal verdammen. Ich finde es sehr wichtig, hier einen offenen , gesellschaftlichen Diskurs zu führen, da doch offenbar erschreckend viele Menschen, vorwiegend Männer, pädophil veranlagt sind...
Es geht darum, Opfer zu vermeiden und zu verhindern, dass Menschen zu Tätern werden. Das geht uns alle an!
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