Tiktok ist eigentlich als Gute-Laune-Plattform bekannt. Wer sich die App runterlädt, sieht meist tanzende Teenies oder lustige Trends. Die Ausrichtung der App ist im Grundsatz wenig politisch. Doch kürzlich spülte mir, einem 27-jährigen Mann, der Algorithmus ein unerwartetes Video aufs Telefon.
«Wie du das Ego eines Mädchens zerstörst, nachdem sie nichts mehr von dir will», so lautet die Überschrift. Darin gibt ein junger Influencer Tipps, mit welchen Strategien man sich bei seiner Verflossenen für eine Zurückweisung rächen kann. Das Ziel besteht darin, ihr Selbstwertgefühl zu zerstören, damit sie keinen anderen Mann findet – und wieder zu einem zurückkommt.
Die Tipps im Video umfassen ein Kontaktverbot, um die frühere Partnerin zu verunsichern und ihr nicht das Gefühl zu geben, dass sie einem etwas bedeutet habe. Einen Aufruf zu mehr Sport und Streben nach Leistung, denn «Schlampen wollen dich nur, wenn du Geld hast». Und noch den Ratschlag, Eroberungsversuche mit der Rote-Shirt-Methode zu probieren, angeblich einem geheimen Konzept aus der Psychologie. Dabei soll man ein auffälliges, rotes T-Shirt tragen und sich online möglichst reich und erfolgreich darstellen, damit die Ex-Freundin das Gefühl hat, sie habe mit der Trennung einen Fehler gemacht.
Solche Videos sind kein Nischenphänomen. Wenn man sie einmal abspielt oder auf einen der dazugehörigen Hashtags klickt, poppen ähnliche Beiträge mit noch extremerem, misogynem Inhalt immer wieder auf. Eine Studie der Dublin City Universität fand heraus, dass Männer im Durchschnitt 23 Minuten nach dem Anmelden in die Tiktok-App frauenfeindliche Inhalte angezeigt bekommen. Gemäss der Studie kommen nach zweieinhalb Stunden Nutzungszeit rund 76 Prozent der angezeigten Inhalte aus einer anti-feministischen Blase.
Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann spricht deshalb von einer «besorgniserregenden Realität» und bezeichnet die Videos als Problem, das Gewalt gegen Frauen begünstige. «Wir beobachten einen deutlichen Anstieg extremistischer Einstellungen, die Gewalt akzeptieren», schreibt das Amt auf Anfrage dieser Zeitung. Solche Ansichten seien von 5,9 Prozent im Jahr 2021 auf 9,1 Prozent im Jahr 2023 angestiegen. Dazu käme eine Zunahme frauenfeindlicher Einstellungen bei Kindern und Jugendlichen.
In diesem Zusammenhang macht dem Gleichstellungsbüro auch Sorge, was das jüngste Nationale Gleichstellungsbarometer der Schweizerischen Konferenz der Gleichstellungsbeauftragten herausfand. Erstmals seien nämlich bedeutende Unterschiede bezüglich der Wahrnehmung von Gleichstellung innerhalb einer Generation festgestellt worden. Demnach sind junge Männer der Meinung, Gleichstellung sei bereits erreicht – anderer Meinung sind junge Frauen der Generation Z, also der um die Jahrtausendwende Geborenen. Das begünstige die durch die sozialen Medien verbreiteten maskulinen Ideen.
Zwar können die sozialen Medien allein diesen Trend nicht erklären. Das Gleichstellungsbüro verweist aber auf einen Wissenschaftsartikel, der vermutet, dass die Online-Machos durchaus einen gewichtigen Einfluss auf Jugendliche haben – auch wenn das bisher noch nicht belegt ist.
Den Trend zu einem neuen Machismus beobachtet auch der bekannte Schweizer Psychologieprofessor Allan Guggenbühl in seiner Praxis. «Junge Männer haben heute das Gefühl, sie würden nicht gehört.» Es gehe in der öffentlichen Debatte oft nur um Frauen und Frauenrechte. «Dabei geht vergessen, dass es auch etwas Männliches gibt, das man nicht pauschal abwerten sollte», erklärt Guggenbühl.
Laut dem Zürcher Psychologen sind die frauenfeindlichen Videos einerseits eine Provokation der Jugendlichen, die sich gegen den gleichstellungsbejahenden Konsens in der Gesellschaft richtet – einfach um der jugendlichen Provokation willen. Andererseits seien sie auch eine Reaktion der Jugendlichen auf Unterschiede zwischen ihrer erlebten Welt und dem, was die Gesellschaft ihnen propagiert.
Man müsse nämlich sehr aufpassen, unterschiedliche Debatten nicht zu vermengen. «Gleichstellung an sich ist heute kaum mehr umstritten», sagt Guggenbühl. Aber es gebe keinen Konsens über die Unterschiedlichkeit der Geschlechter. Vielerorts würde Kindern gesagt, Männer und Frauen seien genau gleich. «Doch in der Schule merken die Kinder dann, dass Lehrer und Lehrerinnen sich unterschiedlich verhalten – oder dass die kindlichen Entwicklungsphasen von Mädchen und Jungen zeitverschoben stattfinden». Diese Diskrepanz zwischen dem Selbsterlebten und der Theorie begünstige dann während der Pubertät das Abrutschen in misogyne Kreise, welche eine realitätsnähere Theorie versprechen.
Guggenbühl sieht in den Videos nicht nur Schlechtes. «Grundsätzlich ist es eine gute Entwicklung, wenn junge Männer nun ebenfalls beginnen, sich über ihr Beziehungsleben auszutauschen, so wie das Mädchen schon lange tun», sagt der Psychotherapeut und plädiert für einen entspannten Umgang mit den Tiktok-Videos.
«Wenn man sich die Tipps der Influencer genau anschaut, sind diese schliesslich ganz banal.» Dass man seinem Schwarm nicht hinterherrenne und zuerst die kalte Schulter zeige, sei eine Strategie, die Mädchen auch schon seit Jahrzehnten nutzen würden. Der andere Tipp, sich abzulenken und an sich selbst zu arbeiten, sei ebenfalls nicht per se schädlich. Laut Guggenbühl ist das Problem eher die extreme Verkaufe auf Tiktok – und natürlich Videos, die tatsächlich zu Gewalt gegen Frauen aufrufen.
Das eidgenössische Gleichstellungsbüro sieht diesbezüglich Handlungsbedarf. «Mit einem Nationalen Aktionsplan konzentrieren wir uns in den nächsten zwei Jahren auf die Bekämpfung der Ursachen von Gewalt. Der Schwerpunkt wird auch auf der Förderung gewaltfreier Umgangsformen und Strukturen liegen», schreibt das Büro. Zusätzlich startet Ende dieses Jahres eine nationale Präventionskampagne. (aargauerzeitung.ch)
Auf die Idee, dass man selbst (noch?) nicht gut genug sein könnte, kommt fast niemand. Doch meistens ist es genau so!