Schweiz
Leben

Die irre Geschichte von Jasper, der in Zürich nur knapp dem Tod entkam

Jasper und seine Mutter
Zeigt die Kugel, die in seinem Kiefer steckte: Jasper.Bild: watson

Jasper entkam in Zürich nur knapp dem Tod – und lange merkte es gar niemand

Es gibt Geschichten, die sind so verrückt, dass man sie kaum glauben kann. Jaspers Geschichte, wie er in Zürich angeschossen wurde, ist so eine.
02.08.2024, 05:0020.12.2024, 14:51
Mehr «Schweiz»

«Angst, abends nach Zürich zu gehen, habe ich keine», sagt Jasper B.* zu watson. Es sind mutige Worte für einen 16-Jährigen, der erst vor wenigen Wochen in der Stadt angeschossen wurde.

Am 15. Juni geht Jasper mit Freunden ans Stolze Openair, ein Gratis-Festival auf der Stolzewiese im Zürcher Kreis 6. Gegen Abend will er das Gelände kurz verlassen, um einen Freund abzuholen. Etwas abseits vom Trottoir wartet er auf ihn.

Plötzlich hört Jasper einen lauten Knall. «Fast gleichzeitig spürte ich einen starken, stechenden Schmerz unter meinem linken Ohr. Als hätte mir jemand mit voller Wucht eine Ohrfeige gegeben», sagt Jasper.

Benommen fasst sich Jasper auf die schmerzende Stelle am Kiefer, direkt unter dem Ohrläppchen. Er spürt: Blut.

Jasper und seine Mutter
Direkt nach der Tat: So sah die Wunde unter Jaspers Ohr aus.Bild: watson

«Ich schaute mich um, doch sah niemanden in meiner unmittelbaren Nähe. Ich war vollkommen verwirrt, aber wollte keine riesige Szene daraus machen. Deshalb ging ich zurück zu meinen Freunden und sagte ihnen, dass ich nach Hause gehe.»

Sie begleiten ihn und im Tram rätselt die Gruppe darüber, woher die Verletzung kommt. Ob ein Gummigeschoss oder eine Softgun, wie sie oft an Jahrmärkten an Kinder verkauft wird (ugs. Bibigun), ihn so hart hätte treffen können. Denn wer geht sofort vom Schlimmsten aus?

Zu Hause, in Wädenswil, klebt Jasper ein Pflaster über die Wunde und wirft eine Schmerztablette ein. Dann geht er ins Bett. Er schläft schnell ein. Ohne zu merken, dass eine Kugel in seinem Kiefer steckt.

Ärzte übersehen Kugel

Am nächsten Morgen wacht Jasper mit «höllischen Kopfschmerzen» auf und fühlt sich noch immer benommen. Seine Mutter, Sandra, schickt ihn deshalb vorsichtshalber auf die Notfallstation des Stadtspitals Triemli.

Dort erzählt Jasper vom vergangenen Abend, vom lauten Knall, dem Schmerz, der Wunde. Seiner Vermutung, dass er von einem Gummigeschoss getroffen worden ist.

Der zuständige Arzt ordnet eine Computertomografie (CT) an, erkennt darauf aber nichts Auffälliges. «Man sagte mir, es handelt sich bei meiner Verletzung um eine Prellung.»

Jasper
«Unauffällig»: das CT des Stadtspitals Triemli. Bild: zvg

watson liegt der ambulante Bericht des Spitals vor. Darin empfiehlt der Arzt Jasper, die betroffene Stelle zu kühlen. Er gibt Jasper Schmerzmittel und schickt ihn dann nach Hause. Die Kugel bleibt in Jaspers Kiefer. Unentdeckt.

Zahnarzt sieht die Kugel auf dem Röntgenbild nicht

Noch am selben Tag geht Jasper zur Polizei und erstattet Anzeige wegen Körperverletzung gegen Unbekannt. Fall abgehakt, denkt Jasper.

Doch in den darauffolgenden Tagen nehmen die Schmerzen im Kiefer zu. Sein Zahnfleisch entzündet sich. Jasper geht zum Zahnarzt. Dieser macht ein Röntgenbild und stellt fest: Seine Weisheitszähne müssten gezogen werden.

Der Zahnarzt zieht ihm noch am selben Tag einen seiner Weisheitszähne – ohne dabei die Kugel zu entdecken.

Eine Woche später muss Jasper erneut zum Zahnarzt, um die Fäden zu ziehen. Seine Mutter begleitet ihn. Als der Zahnarzt ihr das Röntgenbild zeigt, um zu erklären, dass er auch die anderen Weisheitszähne ihres Sohnes ziehen müsse, sticht ihr etwas ganz anderes ins Auge. Ein weisser Punkt.

«Ich habe sofort gefragt, was das ist. Er riss seine Augen weit auf und sagte, es sei etwas, dass da nicht hingehöre», erinnert sich Jaspers Mutter Sandra im Gespräch mit watson. Sie hat die Kugel in Jaspers Kiefer entdeckt.

Jasper
Der weisse Kreis ganz rechts: Auf dem Zahnarzt-Röntgenbild ist die Kugel erstmals sichtbar. Bild: zvg

Spital sieht Kugel auf ursprünglichem CT

Sandra schickt das Röntgenbild des Zahnarztes umgehend an das Zürcher Stadtspital Triemli, wo man ihren Sohn behandelt hat. Sie fragt, warum niemand die Kugel entdeckt hat.

In der E-Mail-Antwort des behandelnden Oberarztes, die watson vorliegt, steht:

«Ihre Nachricht mit dem Röntgenbild hat mich sehr verwundert, da unsere Radiologen in der für solche Fälle geeignetsten Untersuchung (CT) keine Fremdkörper beschrieben haben. Nachdem ich nun die ‹gewöhnliche› Röntgenaufnahme gesehen habe, bin ich nochmals das CT durchgegangen und konnte den Fremdkörper auch sehen, was vom diensthabenden Radiologen auch so gesehen und bestätigt wurde.»

Die Ärzte hätten die Kugel also auch auf dem ersten CT sehen müssen.

Für Sandra war das ein «Schock», wie sie sagt. «Ich wusste nicht, dass so etwas übersehen werden kann. Aber ich verstehe auch, dass jeder Fehler machen kann.»

Auf Anfrage von watson, wie dieser Fehler unterlaufen konnte, schreibt das Stadtspital nur: «Das Stadtspital Zürich ist an die ärztliche Schweigepflicht gebunden. Wir bedauern, Ihnen keine Auskünfte erteilen zu dürfen.»

Jasper und seine Mutter
Irre Geschichte: Jasper und seine Mutter Sandra können immer noch nicht richtig glauben, was passiert ist.Bild: watson

Immerhin: Nachdem die Kugel endlich entdeckt war, geht es schnell. Der behandelnde Arzt des Spitals überweist Jasper sofort an einen Spezialisten, der die Kugel chirurgisch in der Klinik Bethanien entfernen soll.

Beweismittel noch brauchbar?

Kurz vor der Operation geht Jasper nochmals bei der Kantonspolizei auf dem Posten in Wädenswil vorbei und klärt sie über die neusten Entwicklungen auf. Schliesslich hat er Anzeige erstattet. «Die Polizisten haben mir geraten, nach der Operation die Kugel auf den Posten zu bringen, damit sie polizeilich untersucht werden kann», sagt Jasper.

Ein Ratschlag, der Fragen aufwirft. Wurde damit nicht die Beweismittelkette gebrochen?

Für Jonas Weber, Professor für Strafrecht an der Universität Bern, sorgt das Vorgehen der Polizei für Verwunderung. Er erklärt gegenüber watson:

«Wenn die Polizei die Kugel direkt im Spital abholen würde, wäre klar, dass es sich dabei um die Kugel handelt, welche dem 16-Jährigen aus der linken Kieferhälfte entfernt worden ist. Wenn der Jugendliche die Kugel zuerst nach Hause nimmt und dann eine Woche später zur Polizei bringt, könnte später der Einwand erhoben werden, es sei nicht bewiesen, dass es sich bei der Kugel um jene handelt, mit welcher der Jugendliche im Gesicht verletzt worden ist. Insofern wird die Beweiskette geschwächt.»

Dies könnte dann relevant werden, wenn der Schütze ausfindig gemacht und gegen ihn ein Strafverfahren etwa wegen einfacher oder versuchter schwerer Körperverletzung geführt würde.

Aber, so sagt Weber: «Ich gehe davon aus, dass das Spital die Herausnahme der Kugel dokumentiert hat und im Strafverfahren auf diese Dokumentation der Operation und der Kugel zurückgegriffen werden kann.»

Hätten Ärzte Anzeige bei der Polizei machen müssen?
«Nein, laut der Schweizer Gesetzgebung müssen Ärztinnen und Ärzte das nicht melden», sagt Sebastian Eggert, Facharzt am Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich, auf Anfrage von watson. Eine generelle Meldepflicht für Ärztinnen und Ärzte gebe es bei Schusswaffenverletzungen nicht. Jeder Kanton regle es anders: «In Zürich ist der Arzt dann verpflichtet, eine Meldung an die Polizei zu machen, wenn es sich um einen aussergewöhnlichen Todesfall handelt oder jemand vorsätzlich übertragbare Krankheiten verbreitet.»
In allen anderen Fällen würden die Ärzte bei einer Meldung an die Polizei die Gefahr eingehen, ihre Schweigepflicht zu verletzen.

Weber kommt bei Jaspers Fall zum Schluss: «Die Polizei misst dem Vorfall offenbar keine grosse Bedeutung zu, weshalb sie ihren Aufwand gering halten will. Zudem ist im Moment aufgrund der hohen Temperaturen und der Schulferien ziemlich viel los an den Abenden und Nächten, sodass die Polizei Prioritäten setzen muss. Deshalb wird sie den Jugendlichen wahrscheinlich angewiesen haben, die Kugel selbst vorbeizubringen. Meines Erachtens ist dieses Verhalten der Polizei nicht ungewöhnlich oder unsorgfältig.»

Auf Anfrage von watson teilt die Kantonspolizei Zürich mit, dass sie jede Anzeige ernst nehme:

«Der Geschädigte im vorliegenden Fall wurde darauf hingewiesen, den noch herauszuoperierenden Gegenstand dem polizeilichen Sachbearbeiter zu übergeben. Das ist bis dato leider noch nicht passiert. Ob es sich beim Ereignis um einen Unfall oder eine bewusste Tat handelte, ist Gegenstand der noch laufenden Ermittlungen. Mit Vorliegen eines möglichen Projektils ändert sich allerdings die Ausgangslage. Es sind der Polizei im Zeitraum des Ereignisses keine weiteren gleichgelagerten Fälle bekannt.»
Kantonspolizei Zürich

Die Polizei ist bis zur Anfrage von watson also gar nicht von einer Tat mit einer Schusswaffe ausgegangen.

Knapp am Tod vorbei

Fast auf den Tag genau einen Monat nachdem Jasper in Zürich angeschossen wurde, war die Kugel draussen. Wie sich herausstellte, war es kein Gummigeschoss, sondern eine Kugel aus Blei. Die dazugehörige Waffe ist zurzeit noch unbekannt.

Der pensionierte Waffenexperte Jürg Schöttli geht anhand der Art der Kugel davon aus, dass es sich um eine Schrotflinte handeln könnte. Genauer: eine Schrotflinte, wie sie Jäger benutzen.

Schöttli amtete früher als Oberst der Infanterie, Ausbilder für Faustfeuerwaffen und Langwaffen. Er erklärt anhand der Bilder, die watson ihm von der Kugel vorlegt: «Diese runden Patronen werden heute nur noch im Jagdbereich verwendet. Ein Luftgewehr schliesse ich aus, da diese zylinderförmige Patronen verwenden. Die Waffe könnte eine Jagdflinte Kaliber 12 oder 16 sein.»

Einmaliger Gebrauch: Jasper und seine Mutter Sandra zeigen die Bleikugel.
Die Kugel, die Jasper herausoperiert wurde.Bild: watson

Dazu passen würde auch der laute Knall, den Jasper gehört, und der Schlag ins Gesicht, den er gespürt hat. Schöttli betont:

«Der junge Mann hatte ein riesiges Glück, dass er nur eine Kugel abbekommen hatte. Wenn man mit Schrot schiesst, verteilen sich die Projektile in einem mehrere Meter weiten Radius. Mann kann sich vorstellen, dass nach einem Schuss eine Wolke mit verschiedenen Kugeln auf einen zukommt. Wäre er von allen getroffen worden, hätte er sterben können. Entscheidend ist die Distanz, aus der geschossen wurde.»

Wieder stellen sich einige Fragen: Wer nimmt eine Schrotflinte an ein Gratis-Festival in Zürich mit? Wer schiesst mit so einer Waffe auf Menschen? Was ist das Motiv? Es sind Fragen, für die es zurzeit noch keine Antworten gibt.

Am Mittwoch gaben Jasper und seine Mutter die Kugel bei der Polizei ab. Diese kann nun ermitteln. Mutter und Sohn hoffen, dass der Fall möglichst schnell aufgeklärt werden kann.

«Ich will mir gar nicht vorstellen, dass mich irgendjemand bewusst visiert, dann angeschossen und in Kauf genommen hat, dass ich schwer verletzt werde – oder sterbe», sagt Jasper. Er hofft stark, dass es nur ein Unfall war. Dass er zur falschen Zeit am falschen Ort war.

Doch egal, was herauskommen wird: Angst, abends nach Zürich zu gehen, hat der 16-Jährige nicht. Nach dieser irren Geschichte zeugt das von sehr viel Reife.

*(Name der Redaktion bekannt)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Nationaler Trend: Die Gewalt an Bahnhöfen nimmt zu
1 / 12
Nationaler Trend: Die Gewalt an Bahnhöfen nimmt zu
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Dieser Ami erklärt, warum Drag-Shows für Kinder gefährlicher sind als Waffen
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
173 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Locke_nöd_the_boss
02.08.2024 07:04registriert Juli 2024
Bin von 2 Aspekten positiv überrascht:
Der mentalen Stärke von Jasper & seiner Mom - Chapeau!
Dem EMail des Oberarztes - er gibt unumwunden zu, dass Fehler gemacht wurden - auch hier: Chapeau! Denn aufgrund eigener Erfahrungen sind für much Ärzte eigentlich DIE Berufsgruppe, die keine Betriebshaftpflichtversicherung brauchen, da sie keine Fehler eingestehen, pardon, machen.... Ich hoffe für Jasper & seiner Mutter ganz fest, dass auf die Worte des Oberarztes nun auch Taten folgen, sprich, die Kosten für die unnötigen Folgebehandlungen aufgrund der Fehldiagnose anstandslos übernommen werden!
2767
Melden
Zum Kommentar
avatar
Lea Real
02.08.2024 08:02registriert November 2019
Kurzer Input von psychologischer Seite her: ob eine Person nach einem derartigen Vorfall Ängste und oder andere Symptome entwickelt, hat wenig mit Reife zu tun, sondern hat viele verschiedene (andere) Einflussfaktoren.
19012
Melden
Zum Kommentar
avatar
So en Ueli
02.08.2024 06:30registriert Januar 2014
Der junge Herr hat wirklich Eier, nach so einem Vorfall ohne grössere Bedenken weiter zu machen, wie bisher. Und etwas irritiert bin ich schon, wenn Fachpersonen wichtige Dinge einfach so übersehen. Bräuchte es da eine Sensibilisierung?
1619
Melden
Zum Kommentar
173
    Ems-Chemie steigert Gewinn bei tieferem Umsatz

    Der Spezialchemiekonzern Ems hat im Geschäftsjahr 2024 zwar weniger umgesetzt, aber etwas mehr verdient. Nun fällt auch die Ausschüttung an die Aktionäre wieder etwas höher aus.

    Zur Story