«Ich realisiere erst jetzt, wie beschissen ich behandelt wurde, nur weil ich übergewichtig war», sagt Michèle G. im Gespräch mit watson. Am Ufer des Luzerner Rotsees erzählt die 24-jährige TikTokerin, wie nett Menschen zu ihr sind, seit sie durch eine Magenbypass-Operation 60 Kilo verloren hat.
Es seien «banale Dinge, die jedoch einen krassen Unterschied» ausmachten. «Seit ich dünn bin, schauen mir die Menschen wieder in die Augen, wenn sie mit mir sprechen.» Oder: «Andere lassen mich zuerst in den Zug einsteigen und setzen sich neben mich. Als ich adipös war, bin ich immer allein gesessen.» Für Michèle ist klar: «Das Skinny Privilege ist real.»
Skinny Privilege bezeichnet ein Phänomen, bei dem schlanke Menschen gegenüber übergewichtigen von der Gesellschaft bevorzugt behandelt werden. Es ist vergleichbar mit dem Pretty Privilege, bei dem «normschöne» Menschen Vorteile geniessen. Dazu gehören etwa ein freundlicherer Umgang und mehr Aufmerksamkeit in der Gesellschaft, bessere berufliche Chancen, ein leichterer Zugang zu Ressourcen und eine bessere medizinische Versorgung.
Michèle hatte immer mit ihrem Gewicht zu kämpfen. Und mit ihren Emotionen. Ein Grund dafür war die Beziehung zu ihrer Mutter, über die sie nicht sprechen will, weil sie für sie nicht existiert. Lediglich ihre zwei Brüder haben noch Kontakt zur Mutter. Für Michèle war nur ihr Vater da. Weil dieser aber arbeitstätig war und eine Zeit lang unter einer Alkoholsucht litt, war sie meistens allein mit ihren Gedanken. Ihre Bewältigungsstrategie, um mit der Überforderung klarzukommen: Essen.
«Etwas zu essen, hat mir geholfen, Stress abzubauen», sagt sie. Doch je mehr Michèle zunahm, desto mehr zog sie sich zurück. Die Einsamkeit wiederum bewältigte sie mit Essen. Ein Teufelskreis.
«Ich habe oft versucht, mit Sport und Diäten abzunehmen. Doch so schnell ich 20 Kilo verloren habe, so schnell habe ich sie auch wieder zugenommen. Der Jo-Jo-Effekt war deprimierend», sagt Michèle. Ihre beste Zeit erlebte sie gegen Ende der Sekundarschule: «Damals hatte ich eine gute, aber auch eine extreme Phase.» Auf eine Körpergrösse von 1,60 Meter wog sie damals 70 Kilogramm und machte dreimal am Tag Sport. Ein Wahn, der nicht lange anhielt. Schleichend nahm sie wieder zu. «Ich realisierte es lange gar nicht, doch während der Fachmittelschule wurde ich wieder schwerer und schwerer, bis ich schliesslich 120 Kilo wog.» Für sie der absolute Tiefpunkt. Mit einem BMI von über 46 galt sie als schwer adipös.
Paradoxerweise wurde sie mit jedem zusätzlichen Kilo ein Stück unsichtbarer für die Gesellschaft. «In Gruppen wurde ich ständig ignoriert. Und es wurde viel hinter meinem Rücken getuschelt. Diese Ablehnung, obwohl sie meistens nicht ausgesprochen wird, spürt jede übergewichtige Person. Das hat mich immer traurig gemacht», sagt Michèle.
Doch bevor der Frust darüber sie jeweils auffressen konnte, ass sie die Gefühle einfach selbst weg. Jahrelang ging es ihr so immer schlechter, bis sie Anfang 2023 entschied, endgültig etwas ändern zu müssen: mit einer Magenbypass-Operation.
Der Magenbypass ist die häufigste Operationsmethode bei adipösen Menschen. Dabei durchtrennt man nach der Einmündung der Speiseröhre den Magen. Zurück bleibt eine kleine Magentasche, die direkt mit dem Dünndarm verbunden wird. In der Schweiz kann man den Eingriff jedoch nur durchführen, wenn man einige Voraussetzungen erfüllt. Konkret muss man:
Michèle erfüllte diese Bedingungen, weshalb die Krankenkasse ihren Eingriff bezahlte. Sie wusste aber, dass die Magenbypass-Operation kein Wundermittel sei. «Es ist eher wie eine Krücke, die einem hilft, zu laufen. Den Weg muss man immer noch selbst gehen.» Und dieser Weg war steinig.
«Ich habe nach der OP oft geweint, weil ich etwas essen wollte, das ich nicht sollte. Man wird halt nur im Magen operiert, im Hirn ist man noch immer adipös», sagt sie. Rückblickend wäre sie froh gewesen, hätte sie sich psychologische Betreuung für diese Zeit geholt. «Essen war eine Sucht für mich und ich war auf einem kalten Entzug.»
Nicht selten hatte sie deshalb mit «Dumpings» zu kämpfen, weil sie zu schnell, zu viel oder das Falsche ass. Wenn man mit einem Magenbypass zu viele Kohlenhydrate aufnimmt, steigt und fällt danach der Blutzuckerspiegel rasant und es kann zu einem Kreislaufkollaps kommen. Über ein Jahr nach der Operation hat sich Michèles Essverhalten jedoch eingependelt, auch «Dumpings» sind seltener geworden.
«Ich esse etwa einen Viertel von einer Restaurantportion», sagt sie. Mit ihrem Gewicht von 60 Kilo ist sie heute sehr zufrieden. Doch auch mit einem Magenbypass besteht das Risiko, dass sie wieder massiv übergewichtig werden kann. Michèle muss ihr Leben lang darauf achten, wie sie sich ernährt.
Darüber, was sich seit der Magenbypass-Operation alles verändert hat, spricht Michèle in ihren Videos auf TikTok (@mischi.mp4).
«Als ich noch adipös war, hätte ich mich nie getraut, mich vor einer Kamera zu zeigen. Doch jetzt fühle ich mich selbstbewusst genug, meinen Weg mit anderen zu teilen.»
So klärt sie andere über die Schattenseiten der Operation auf. Dass ein Magenbypass nicht der einfachste Weg sei, sondern der letzte Ausweg. Über ihre Heulattacken. Über die emotionale und mentale Arbeit, die der Eingriff mit sich bringt. Und darüber, wie anders die Menschen auf sie reagieren, seit sie abgenommen hat: das Skinny Privilege.
«Seit meinem Magenbypass werde ich besser behandelt. Das finde ich einerseits schön, aber es macht mich auch enorm traurig, wenn ich an die übergewichtige Michèle denke, die nie ein Kompliment oder Hilfe angeboten bekommen hat», sagt sie. Die gesellschaftlichen Vorteile, eine dünne Person zu sein, seien weitreichend. Nicht nur im Privat-, sondern auch im Berufsleben. Bereits mehrere Jobangebote im Content-Bereich habe sie erhalten, seit sie nicht mehr adipös sei. «Die Menschen sagen mir, ich passe perfekt zu ihrer Marke. Das hätte mir früher niemand gesagt.»
Michèle hofft, mit ihren Videos die Menschen aufzuklären und ihnen vor Augen führen zu können, dass man übergewichtige Menschen gleich behandeln und integrieren soll wie dünne Menschen. Sie sagt:
Es ist schon sehr krass, was das eigene Körpergewicht (oder eben die Gesellschaft) mit einem Menschen machen kann.
Michèle, ich wünsche dir viel Erfolg und ein glückliches Leben!
Ich habe noch eine Frage an die Community bezüglich der Aussage "Niemand wollte sich neben mich setzen":
Meine Arbeitskollegin ist toll - sympathisch, hoch intelligenz, reflektiert, kurz: es ist eine Freude mit ihr zu arbeiten. Und sie ist wahrscheinlich mehr als 120 kg. Ich setz mich, wenn wir zusammen nachhause fahren aber auch eher nicht neben sie. Da ist einfach wenig Platz. Sollte ich?
Fazit: Wenn man aus der Norm fällt, behandeln einem viele Menschen - LEIDER - anders.