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Skinny Privilege: Nach dem Magenbypass sind plötzlich alle nett zu ihr

Hat durch eine Magenbypass-Operation viel abgenommen: TikTokerin Michèle. Video: watson/Aya Baalbaki
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Skinny Privilege: Michèle hat 60 Kilo abgenommen und plötzlich sind alle nett zu ihr

Michèle konnte durch eine Magenbypass-OP ihr Gewicht von 120 Kilo auf 60 Kilo reduzieren. Seither wird sie viel netter behandelt. Das Skinny Privilege sei absolut real, erklärt die TikTokerin bei einem Treffen in Luzern.
12.07.2024, 06:0313.02.2025, 10:31
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«Ich realisiere erst jetzt, wie beschissen ich behandelt wurde, nur weil ich übergewichtig war», sagt Michèle G. im Gespräch mit watson. Am Ufer des Luzerner Rotsees erzählt die 24-jährige TikTokerin, wie nett Menschen zu ihr sind, seit sie durch eine Magenbypass-Operation 60 Kilo verloren hat.

Es seien «banale Dinge, die jedoch einen krassen Unterschied» ausmachten. «Seit ich dünn bin, schauen mir die Menschen wieder in die Augen, wenn sie mit mir sprechen.» Oder: «Andere lassen mich zuerst in den Zug einsteigen und setzen sich neben mich. Als ich adipös war, bin ich immer allein gesessen.» Für Michèle ist klar: «Das Skinny Privilege ist real.»

Skinny Privilege bezeichnet ein Phänomen, bei dem schlanke Menschen gegenüber übergewichtigen von der Gesellschaft bevorzugt behandelt werden. Es ist vergleichbar mit dem Pretty Privilege, bei dem «normschöne» Menschen Vorteile geniessen. Dazu gehören etwa ein freundlicherer Umgang und mehr Aufmerksamkeit in der Gesellschaft, bessere berufliche Chancen, ein leichterer Zugang zu Ressourcen und eine bessere medizinische Versorgung.

BMI von über 46

Michèle hatte immer mit ihrem Gewicht zu kämpfen. Und mit ihren Emotionen. Ein Grund dafür war die Beziehung zu ihrer Mutter, über die sie nicht sprechen will, weil sie für sie nicht existiert. Lediglich ihre zwei Brüder haben noch Kontakt zur Mutter. Für Michèle war nur ihr Vater da. Weil dieser aber arbeitstätig war und eine Zeit lang unter einer Alkoholsucht litt, war sie meistens allein mit ihren Gedanken. Ihre Bewältigungsstrategie, um mit der Überforderung klarzukommen: Essen.

«Etwas zu essen, hat mir geholfen, Stress abzubauen», sagt sie. Doch je mehr Michèle zunahm, desto mehr zog sie sich zurück. Die Einsamkeit wiederum bewältigte sie mit Essen. Ein Teufelskreis.

Einmaliger Gebrauch: Michèle Gisin über Skinny Privilege
Das Lächeln trügt: Michèle war nicht zufrieden mit ihrem Gewicht. Bild: zvg

«Ich habe oft versucht, mit Sport und Diäten abzunehmen. Doch so schnell ich 20 Kilo verloren habe, so schnell habe ich sie auch wieder zugenommen. Der Jo-Jo-Effekt war deprimierend», sagt Michèle. Ihre beste Zeit erlebte sie gegen Ende der Sekundarschule: «Damals hatte ich eine gute, aber auch eine extreme Phase.» Auf eine Körpergrösse von 1,60 Meter wog sie damals 70 Kilogramm und machte dreimal am Tag Sport. Ein Wahn, der nicht lange anhielt. Schleichend nahm sie wieder zu. «Ich realisierte es lange gar nicht, doch während der Fachmittelschule wurde ich wieder schwerer und schwerer, bis ich schliesslich 120 Kilo wog.» Für sie der absolute Tiefpunkt. Mit einem BMI von über 46 galt sie als schwer adipös.

Adipositas
Als adipös gelten Personen mit einem Body-Mass-Index ab 30. Diesen Wert erzielt gemäss BMI-Rechnern beispielsweise ein 1,80 m grosser Mann mit einem Gewicht von 98 Kilo oder eine 1,75 m grosse Frau, die 92 Kilo wiegt. Hat man einen BMI von 25 bis 29,9, gilt man nicht als adipös, sondern als übergewichtig.

Paradoxerweise wurde sie mit jedem zusätzlichen Kilo ein Stück unsichtbarer für die Gesellschaft. «In Gruppen wurde ich ständig ignoriert. Und es wurde viel hinter meinem Rücken getuschelt. Diese Ablehnung, obwohl sie meistens nicht ausgesprochen wird, spürt jede übergewichtige Person. Das hat mich immer traurig gemacht», sagt Michèle.

Doch bevor der Frust darüber sie jeweils auffressen konnte, ass sie die Gefühle einfach selbst weg. Jahrelang ging es ihr so immer schlechter, bis sie Anfang 2023 entschied, endgültig etwas ändern zu müssen: mit einer Magenbypass-Operation.

«Essen war eine Sucht für mich und ich war auf einem kalten Entzug.»

«Kalter Entzug»

Der Magenbypass ist die häufigste Operationsmethode bei adipösen Menschen. Dabei durchtrennt man nach der Einmündung der Speiseröhre den Magen. Zurück bleibt eine kleine Magentasche, die direkt mit dem Dünndarm verbunden wird. In der Schweiz kann man den Eingriff jedoch nur durchführen, wenn man einige Voraussetzungen erfüllt. Konkret muss man:

  • einen BMI von über 35 haben
  • eine erfolglose, zweijährige nicht-chirurgische Therapie zur Gewichtsreduktion hinter sich haben
  • ein gutes Verständnis für die Risiken und Folgen der Operation haben
  • eine Einwilligung unterzeichnen, dass man sich in einem anerkannten Zentrum zur Nachsorge verpflichtet
«Man wird halt nur im Magen operiert, im Hirn ist man noch immer adipös.»

Michèle erfüllte diese Bedingungen, weshalb die Krankenkasse ihren Eingriff bezahlte. Sie wusste aber, dass die Magenbypass-Operation kein Wundermittel sei. «Es ist eher wie eine Krücke, die einem hilft, zu laufen. Den Weg muss man immer noch selbst gehen.» Und dieser Weg war steinig.

«Ich habe nach der OP oft geweint, weil ich etwas essen wollte, das ich nicht sollte. Man wird halt nur im Magen operiert, im Hirn ist man noch immer adipös», sagt sie. Rückblickend wäre sie froh gewesen, hätte sie sich psychologische Betreuung für diese Zeit geholt. «Essen war eine Sucht für mich und ich war auf einem kalten Entzug.»

Einmaliger Gebrauch: Michèle Gisin über Skinny Privilege
Hat sich 2023 für eine Magenbypass-Operation entschieden: Michèle. Bild: watson

Nicht selten hatte sie deshalb mit «Dumpings» zu kämpfen, weil sie zu schnell, zu viel oder das Falsche ass. Wenn man mit einem Magenbypass zu viele Kohlenhydrate aufnimmt, steigt und fällt danach der Blutzuckerspiegel rasant und es kann zu einem Kreislaufkollaps kommen. Über ein Jahr nach der Operation hat sich Michèles Essverhalten jedoch eingependelt, auch «Dumpings» sind seltener geworden.

«Ich esse etwa einen Viertel von einer Restaurantportion», sagt sie. Mit ihrem Gewicht von 60 Kilo ist sie heute sehr zufrieden. Doch auch mit einem Magenbypass besteht das Risiko, dass sie wieder massiv übergewichtig werden kann. Michèle muss ihr Leben lang darauf achten, wie sie sich ernährt.

Skinny Privilege

Darüber, was sich seit der Magenbypass-Operation alles verändert hat, spricht Michèle in ihren Videos auf TikTok (@mischi.mp4).

«Als ich noch adipös war, hätte ich mich nie getraut, mich vor einer Kamera zu zeigen. Doch jetzt fühle ich mich selbstbewusst genug, meinen Weg mit anderen zu teilen.»

Spricht offen über ihre Erfahrungen mit dem Magenbypass: Michèle bei einem Treffen in Luzern. Video: watson/Aya Baalbaki

So klärt sie andere über die Schattenseiten der Operation auf. Dass ein Magenbypass nicht der einfachste Weg sei, sondern der letzte Ausweg. Über ihre Heulattacken. Über die emotionale und mentale Arbeit, die der Eingriff mit sich bringt. Und darüber, wie anders die Menschen auf sie reagieren, seit sie abgenommen hat: das Skinny Privilege.

«Seit meinem Magenbypass werde ich besser behandelt. Das finde ich einerseits schön, aber es macht mich auch enorm traurig, wenn ich an die übergewichtige Michèle denke, die nie ein Kompliment oder Hilfe angeboten bekommen hat», sagt sie. Die gesellschaftlichen Vorteile, eine dünne Person zu sein, seien weitreichend. Nicht nur im Privat-, sondern auch im Berufsleben. Bereits mehrere Jobangebote im Content-Bereich habe sie erhalten, seit sie nicht mehr adipös sei. «Die Menschen sagen mir, ich passe perfekt zu ihrer Marke. Das hätte mir früher niemand gesagt.»

Skinny Privilege: Das sagt die Forschung
Im Gegensatz zum «Pretty Privilege» gebe es noch keine Studien, die sich mit Schlankheit und (beruflichem) Erfolg auseinandersetzen, schreibt Roman Althans auf Anfrage von watson. Er betreibt soziologische Attraktivitätsforschung an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Althans sagt im Bezug darauf, wie sich das Gewicht auf den eigenen Erfolg auswirken kann: «Übergewichtige Menschen sind Diskriminierungen und Stigmatisierungen ausgesetzt, die sicherlich in unterschiedlichen Kontexten wirksam sind. Des Weiteren ist Schlankheit ein (heutzutage wichtiger) Bestandteil von physischer Attraktivität.» Und attraktive Menschen hätten es erwiesenermassen in jeder Phase der Karriere einfacher.

Michèle hofft, mit ihren Videos die Menschen aufzuklären und ihnen vor Augen führen zu können, dass man übergewichtige Menschen gleich behandeln und integrieren soll wie dünne Menschen. Sie sagt:

«Für mich war es nicht so schön, dick zu sein. Aber andere sind zufrieden so, wie sie sind. Jeder verdient es deshalb, gut behandelt zu werden. Übergewichtig zu sein, macht dich nicht weniger wert.»
Einmaliger Gebrauch: Michèle Gisin über Skinny Privilege
Ist glücklich, wie es jetzt ist: TikTokerin Michèle. Bild: watson
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Video: watson
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421 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Nothingtodisplay
12.07.2024 06:50registriert November 2014
Ich habe in meinem Freundeskreis auch eine Person mit Magenbypass. Ich mochte diese sehr aufgestellte und unternehmenslustige Person verständlicherweise schon vor der Operation. Nach dieser OP (vor knapp 5 Jahren) ist die Person jedoch durch die "körperliche Zufriedenheit" noch einmal mehr aufgeblüht.

Es ist schon sehr krass, was das eigene Körpergewicht (oder eben die Gesellschaft) mit einem Menschen machen kann.

Michèle, ich wünsche dir viel Erfolg und ein glückliches Leben!
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Der Pinguin
12.07.2024 06:54registriert September 2016
Scheint mir eine sehr reflektierte junge Frau zu sein. Das sind ja psychisch und physisch zieml7che Herausforderungen, die sie zu meistern hatte und hat. Wünsche ihr alles gute auf ihrem Weg.

Ich habe noch eine Frage an die Community bezüglich der Aussage "Niemand wollte sich neben mich setzen":

Meine Arbeitskollegin ist toll - sympathisch, hoch intelligenz, reflektiert, kurz: es ist eine Freude mit ihr zu arbeiten. Und sie ist wahrscheinlich mehr als 120 kg. Ich setz mich, wenn wir zusammen nachhause fahren aber auch eher nicht neben sie. Da ist einfach wenig Platz. Sollte ich?
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Müüsu
12.07.2024 06:50registriert November 2022
So was wünscht man Niemandem. Sie sagt es richtig, bei Übergewicht oder starkem Untergewicht kann man physisch und psychisch etwas dagegen unternehmen... und jetzt kommt das Aber. Aber man KANN etwas dagegen tun. Mir ist bewusst das ich jetzt whataboutism betreibe, aber macht doch zB mal so ein interview mit einer Person im Rollstuhl.
Fazit: Wenn man aus der Norm fällt, behandeln einem viele Menschen - LEIDER - anders.
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