Es sind Zahlen, die aufhorchen lassen. Eine Milliarde Menschen auf der Erde sind stark übergewichtig, sogenannt adipös, davon 880 Millionen Erwachsene. Dies geht aus einer im März veröffentlichten Studie hervor, an der auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beteiligt war.
Besorgniserregend sind die Zahlen vor allem im Vergleich mit früheren Werten. Waren 1990 laut Schätzungen der Forscher 226 Millionen erwachsene Personen adipös, hat sich dieser Wert mit 880 Millionen im Jahr 2022 fast vervierfacht.
Zahlen zur Schweiz liefert das Bundesamt für Statistik. Die letzte Erhebung wurde 2022 durchgeführt. Sie zeigt, dass Adipositas sowohl bei Männern als auch bei Frauen um knapp einen Prozentpunkt höher liegt als noch 2017.
Im Jahr 2022 waren in der Schweiz etwas mehr als eine Million Menschen ab 15 Jahren – 13,2 Prozent der Männer und 11 Prozent der Frauen – adipös.
Eine von ihnen ist Yvonne Gallusser aus Zürich. Wir treffen sie Mitte März in einem Café beim Bahnhof Enge.
Zu Spitzenzeiten wog die 1,75 Meter grosse Frau 145 Kilo. Damit hatte sie einen BMI von 47,3. In der Medizin spricht man von Adipositas Grad 3 oder auch von «schwerem Übergewicht».
Die heute 46-Jährige hat eine lange Leidensgeschichte hinter sich. Im Kindesalter erlebte sie einen Missbrauch. Ihr ganzes Leben litt sie unter Traumafolgestörungen und Depressionen, fügte sich immer wieder Selbstverletzungen zu.
Dass sie missbraucht wurde, erzählte sie – auch auf Druck ihres Peinigers – bis vor einigen Jahren niemandem. Ihre geschundene Seele stellte Gallusser mit Essen zufrieden, bereits im zweiten Kindergarten war sie übergewichtig. Mit 18 Jahren zeigte die Waage 90 Kilo an.
Hinzu kommt eine Adipositas-Häufung innerhalb der Familie. Auch ihre Tante und ihre Cousine sind stark übergewichtig.
Im Jahr 2014 ging es nicht mehr weiter. Gallusser, damals Mitte 30, hatte zwar starke Gewichtsschwankungen, nahm in der Tendenz aber immer mehr zu. Sie probierte jede Diät aus, die der Markt anbot. Nachhaltiger Erfolg stellte sich bei ihr keiner ein. Zehn Kilo runter, fünfzehn Kilo rauf, so ging es mehr als 20 Jahre. Der letzte Ausweg: eine Magenoperation. 2015 war es so weit.
Philipp Gerber ist Klinischer Leiter Endokrinologie am Adipositas Zentrum des Universitätsspitals Zürich. Er sagt, die Nachfrage nach einer Therapie sei riesig. Aktuell betrage die Wartezeit für Adipöse rund ein halbes Jahr. In Zentren in anderen Städten und Kantonen sehe es nicht besser aus.
Das Adipositas Zentrum vereint mehrere Kliniken des Unispitals, bietet ganzheitliche Abklärungen und interdisziplinäre Verfahren an. «Dass das Bedürfnis nach einer Behandlung steigt, hat mit der sinkenden Stigmatisierung und mit neuen Therapiemöglichkeiten und Medikamenten zu tun», sagt Gerber.
Grundsätzlich sei Adipositas gut behandelbar. Man könne zwar die meisten Menschen nicht komplett von Adipositas befreien, das sei aber auch nicht das Ziel. «Wenn jemand mit einem BMI von 50 nach einer Operation noch einen von 32 hat, hat diese Person extrem viel erreicht.»
Wichtig sei eine frühzeitige Intervention. Gerber betont:
Zu einem operativen Eingriff ist nur zugelassen, wer einen BMI von 35 oder höher aufweist und zwei Jahre erfolglos versucht hat, abzunehmen. Dies geht aus den Richtlinien der Swiss Society for the Study of Morbid Obesity and Metabolic Disorders hervor. Beide Voraussetzungen trafen auf Yvonne Gallusser zu.
Bei ihr wurde eine sogenannte Magenbypass-Operation durchgeführt, die häufigste Operation bei adipösen Personen. Die Krankenkasse kommt für den Eingriff auf. Kurz nach der Einmündung der Speiseröhre durchtrennten die Ärzte Gallussers Magen und nähten ihn zu. Es blieb eine kleine Magentasche, die sie direkt mit dem Dünndarm verbanden, dadurch liessen sich ein Teil des Magens und Dünndarms überbrücken.
Die Folgen: Nach der Operation konnte Gallusser nicht mehr so viel essen. Ihr Sättigungsgefühl trat deutlich schneller ein. Zudem verdaute sie durch die Überbrückung des Dünndarms insgesamt weniger Nahrung. Ihr Körper verwertete also auch deutlich weniger Nährstoffe.
In Bezug auf die Adipositas war die Operation bei Yvonne Gallusser ein voller Erfolg. Innerhalb weniger Jahre ging ihr Gewicht von 145 auf 60 Kilo zurück. Allerdings traten zahlreiche post-operative Komplikationen auf.
Gallusser erlitt etwa eine Darminvagination. Dabei rutscht ein Abschnitt des Dünndarms in einen anderen und blockiert so die Darmtätigkeit und den Blutfluss. Sie musste sich zudem mit inneren Hernien, Durchbrüchen von Gewebe im Bauchraum, herumschlagen.
Immer wieder erlebt sie sogenannte «Dumpings». Isst Gallusser zu viele Kohlenhydrate, steigt ihr Blutzuckerspiegel stark an, fällt danach aber ebenso stark ab. In der Folge kommt es bei ihr zu Heisshungerattacken, Übelkeit und manchmal sogar Ohnmacht. Insgesamt benötigte sie sieben Nachfolgeoperationen. Gänzlich frei von Beschwerden ist Gallusser jedoch bis heute nicht.
Trotzdem sagt die heute 46-Jährige: «Ich würde die Operation jederzeit wieder machen.» Denn:
Im Tram setzen sich plötzlich Menschen neben sie. Als stark Übergewichtige sei dies früher nie der Fall gewesen. Zweimal konnte sie zudem den Jakobsweg abwandern, 110 Kilometer und 200 Kilometer legte sie zurück. Die verlorenen Kilos sind für Gallusser in vielerlei Hinsicht eine Erleichterung.
Gallusser hat wegen ihres Übergewichts während Jahrzehnten Stigmatisierungen erlebt. Als sie in Zürich in einem Käseladen arbeitete und die Theke putzte, meinte ihr Chef: «Du bist so dick, ich muss in den Thurgau wenden gehen, damit ich an dir vorbeikomme.» Ein anderer Vorgesetzter bot ihr 100 Franken mehr Lohn an, wenn sie zehn Kilo abnehme.
Als sie einmal mit Freunden den Europa-Park besuchte und bereits im Wagen der Silver Star sass, liess sich der Sicherheitsbügel aufgrund ihres Übergewichts nicht schliessen. Gallusser musste die Achterbahn vor den Augen aller anderen Besucher verlassen. «Dieser Vorfall war peinlich und machte mich sehr traurig.»
Trotz aller Vorteile ohne Übergewicht: Bei den zwischenzeitlich erreichten 60 Kilo blieb es nicht. Gallusser nahm wieder zu, war einige Jahre nach der Operation erneut 100 Kilo schwer.
Sie erklärt sich diese Gewichtszunahme mit ihrer angeschlagenen Psyche. Durch den Missbrauch in der Kindheit erlebte Gallusser immer wieder depressive Episoden, schleppte sich mehr schlecht als recht durchs Leben. Erst 2019, über 30 Jahre nach dem Missbrauch, holte sie sich psychologische Hilfe.
Nach einem Klinikaufenthalt besserte sich ihr psychischer Zustand. Die Adipositas loszuwerden, schaffte sie jedoch nicht. Gallusser entschied sich für eine zweite Magen-Operation. Heute wiegt sie 87 Kilo und fühlt sich damit einigermassen wohl. «Ins Schwimmbad würde ich trotzdem nie gehen, das wäre mir viel zu unangenehm.»
Ihr Zielgewicht ist 75 Kilo. Sie kocht jeden Tag, ernährt sich ausgewogen von Gemüse, Fleisch, Fisch und Milchprodukten. Da Gallusser aufgrund ihres Magenbypasses nur wenig Nahrung aufnehmen kann, liegt der Fokus auf den Proteinen. Ein bisschen Schokolade oder ein paar Grissini liegen gelegentlich drin.
Wegen ihrer langen Leidensgeschichte mit psychischen Problemen und Adipositas bezieht Gallusser aktuell eine IV-Rente und ist im zweiten Arbeitsmarkt tätig. «Ich möchte jedoch unbedingt wieder im ersten Arbeitsmarkt Fuss fassen. Eine Stelle wie damals im Käseladen wäre schön.»
Philippe Gerber vom Universitätsspital Zürich hat Hunderte von adipösen Patientinnen und Patienten behandelt. «Unser ganzes Umfeld fördert Adipositas», sagt Gerber. Und führt aus:
Auch die Covid-Pandemie habe adipösen Personen nicht geholfen. Die ständige Nähe zum Kühlschrank im Home-Office sei suboptimal gewesen. Und dann gibt es noch die sozioökonomische Komponente: «Unterprivilegierte Menschen mit tieferem Bildungsniveau, Schichtarbeiter mit unregelmässigen Schlaf-Wach-Zeiten – diese Teile der Bevölkerung haben ein deutlich erhöhtes Risiko für Adipositas.»
Daten des Bundesamtes für Statistik bestätigen, was Gerber im Alltag als Arzt erlebt. Beispielsweise war 2017 rund ein Fünftel der Frauen ab 25 Jahren mit nur obligatorischer Schulbildung adipös. Bei den Frauen mit Hochschulabschluss waren es lediglich 6 Prozent.
Wie bei Yvonne Gallusser war auch für Mirjam Koch eine Magenoperation der letzte Ausweg. Koch wurde mit Mitte 20 innerhalb von drei Jahren in vier Autounfälle verwickelt, ist seither in ihren Bewegungen eingeschränkt und kann nur wenig Sport treiben. Die heute 50-Jährige leidet seit diesen Unfällen unter starken Schmerzen, Medikamente, die etwas nützen, gebe es nicht. In einem ausführlichen Gespräch mit watson erzählt sie:
Auch Mirjam Koch durchlief eine Diät-Odyssee, gab Tausende von Franken für spezielle Ernährungsformen aus. Ein nachhaltiger Erfolg stellte sich nie ein. Nach der zweiten Schwangerschaft verlor sie immer mehr die Kontrolle über ihr Gewicht. Ein chirurgischer Eingriff schien ihr das letzte Mittel zu sein.
Koch, damals mit 104 Kilo auf 1,68 Meter (BMI: 36,6) zwar für Adipositasverhältnisse ein «Leichtgewicht», war sich sicher: «Wenn ich jetzt nichts unternehme, wiege ich irgendwann 150 Kilo.»
Koch unterzog sich einer Schlauchmagen-Operation («Sleeve»). Dabei reduzierten die Chirurgen ihren Magen auf rund einen Viertel seines ursprünglichen Volumens. Innerhalb eines Jahres verlor Koch durch den Eingriff 40 Kilo. Acht Jahre lang lief danach alles gut.
Nach der Menopause nahm Koch jedoch erneut 15 Kilo zu. Dank einer weiteren Magenverkleinerung, einem «Re-Sleeve», wurde sie die 15 Kilo wieder los.
Eine Magenoperation sei eine sinnvolle Lösung, wenn sie an einem anerkannten Zentrum durchgeführt werde, sagt Koch. Die 50-Jährige ist gelernte Pflegefachfrau und liess sich zur Adipologin weiterbilden. Sie ist an den Adipositaszentren der Spitäler Limmattal und Muri tätig, setzt ihre eigenen Erfahrungen ein und betreut unter anderem Adipöse während einer medikamentösen Therapie oder nach einem chirurgischen Eingriff.
Heute wiegt Koch 75 Kilo. Damit ist sie nur noch leicht übergewichtig. In ihrem Kopf ist die Adipositas trotzdem bis heute nicht verschwunden. «Ich bin jetzt zwar schlank. Wenn ich in den Spiegel schaue, fühle ich mich aber immer noch dick. Eine Wahrnehmungsstörung, wenn man so will.»
Wie Gallusser leitet auch Koch seit 2016 eine Adipositas-Austauschgruppe, gibt dort ihr Fachwissen und ihre Erfahrungen an adipöse Menschen im Alter von 22 bis knapp 70 weiter. Sie sollen es mit ihrer Krankheit zumindest ein wenig leichter haben als Koch in ihrer langen Leidenszeit.
Ist ein klassisches Beispiel dafür, wieso das Gesundheitswesen immer teurer wird. Griffige Lösungen für mehr Gesundheitsprävention werden durch Lobbying in der Politik leider verhindert.
Was ich noch bedenklich finde, sind diese vielen Magazinen die mit "800kcal pro Tag" Diäten auf die Leserschaft einwirken. So etwas sollte klar verboten werden.
Meine Mutter hat früher leider praktisch jeden dieser "Tipps" versucht und hat somit ihren Stoffwechsel komplett an die Wand gefahren.