Vor uns sitzt «Mr. 4 Percent». Er erklärt, wie das gehen soll mit dem zukünftigen Engagement seiner Firma in der Schweiz. Schliesslich soll die Firma mit 4 Prozent ihrer Bruttoeinnahmen aus dem Schweizer Markt die Schweizer Film- und Serienszene unterstützen. So hat es das Schweizer Parlament beschlossen. Die Firma ist Netflix. Und Mr. 4 Percent heisst mit ganzem Namen und Titel Dr. Wolf Osthaus, Director Public Policy DACH at Netflix. Wir sind in Genf. Am GIFF, dem Geneva International Film Festival. Die Abkürzung DACH beinhaltet Deutschland, Österreich und die Schweiz beziehungsweise deren Märkte.
Doktor Osthaus hat so seine rhetorischen Strategien, eine davon ist, möglichst schnell möglichst viel möglichst freundlich zu sagen und damit gleichermassen Skepsis und Aufmerksamkeit seines Gegenübers zu zerstreuen. Er ist da, um Hoffnungen zu zerstören. Oder keine zu machen. Wir haben zugehört und ein bisschen zwischen den Zeilen gestochert. Beziehungsweise stellen und beantworten die brennendsten Fragen nach seinem Auftritt in Genf hier gleich selbst.
Ist die Schweiz für Netflix eigentlich lukrativ?
Für ihre Grösse? Sehr! Netflix weigert sich bekanntlich, genaue Zahlen rauszurücken, aber das haben jetzt Umfrageinstitute übernommen: Corona hat Netflix zu einem riesigen Boost verholfen, im vierten Quartal 2021 soll es in der Schweiz geschätzte 2,8 Mio. Netflix-Abos geben. Im Vergleich: In Deutschland, das zehn Mal so gross ist, liegt der Schätzwert bei 11 Mio.
Okay, was heisst das jetzt in Geld?
Nehmen wir den günstigsten Abo-Preis von 11,90 Franken im Monat, dann nimmt Netflix unter den jetzigen Umständen in der Schweiz 12 x 11,90 Franken x 2'800'000 = 399'840'000 Franken ein. Im Minimum. Also mindestens 400 Mio Franken.
Und davon geht wieviel an die Schweizer Film- und Serienförderung?
4 Prozent. Das wären mindestens 16 Mio Franken.
Das ist viel, oder?
Naja, das reicht in Netflix-Dimensionen gerade mal für 1,3 Folgen von «The Crown».
Findet Netflix in Gestalt von Doktor Osthaus diese Abgaben, die für viele andere Länder längst gelten, gut? Oder hofft er auf das angedrohte Referendum gegen die «Lex Netflix», das Jungliberale angekündigt haben?
Tendenziell hofft er auf Letzteres. Doktor Osthaus ist natürlich gegen einen regulierten Markt und staunt über das «Wunder der direkten Demokratie», sagt aber auch, dass sich Netflix nun mal einfach nach den Spielregeln der einzelnen Länder zu richten habe und fertig.
Gut. Und eröffnet Netflix mit einem Teil der mindestens 400 in der Schweiz verdienten Millionen jetzt auch ein Büro in Zürich, Bern oder Genf, schafft Arbeitsplätze und bezahlt Steuern?
Nein. Netflix regiert von Berlin aus und fertig. In Berlin beschäftigt Netflix über 300 Leute, gegen 80 davon kümmern sich um die Beurteilung von Inhalten.
Hat Netflix irgendwelche Visionen, wie es mit der Schweiz ein internationales Erfolgsformat aufbauen könnte?
Nein.
Was ist denn die Erwartung?
Dass die Schweiz mit genialen Projekten in Berlin vorstellig wird.
Okay, ich bin Drehbuchautorin/Regisseur und habe tausend geniale Ideen. Kann ich jetzt nach Berlin fahren, mit Netflix reden und werde gefördert?
Nein.
Sondern?
Netflix interessiert sich nur für dich, wenn du mit deinem genialen Projekt bereits bei einer Produktionsfirma untergebracht bist oder von einer Agentur vertreten wirst, die sichere Werte hervorgebracht hat.
Aha. Das heisst, das Projekt sollte also schon fortgeschritten und damit mindestens auch teilfinanziert sein.
Genau. Am besten bereits fertig.
Netflix entwickelt also nicht exklusiv mit uns zum Erfolg verdammte Stoffe?
Nein. Das macht Netflix grundsätzlich nur auf dem angelsächsischen Markt, sagt Doktor Osthaus. Beziehungsweise mit Ausnahmen. In Deutschland etwa mit «Dark». Nur 10 Prozent aller Netflix-Inhalte werden in direkter Zusammenarbeit mit Netflix entwickelt und produziert, bei 90 Prozent handelt es sich um Übernahmen, das «N»-Gütesiegel gibts aber etwa, wenn Netflix exklusiv für die internationale Distribution zuständig ist wie bei «Wolkenbruch».
Wo sieht Netflix die Schweiz am liebsten?
Nach allem, was Doktor Osthaus gesagt hat, steht zu befürchten, dass Netflix die Schweiz am liebsten in internationalen Koproduktionen versorgt sieht. Also eigentlich gar nicht.
Wieso?
Weil Schweizer Formate auf Netflix sehr schlecht laufen.
Gibts denn überhaupt welche? Ich bin noch nie über ein Schweizer Format gestolpert.
Laut Doktor Osthaus gibt es «mehrere». Ausser «Wolkenbruch», «Der Bestatter», «Giulias Verschwinden» und der internationalen Koproduktion «Als Hitler das rosa Kaninchen stahl» habe ich aber auch nichts gefunden. Wahrscheinlich sind diese vier bereits «mehrere».
Wie das? Hat Netflix nicht diesen viel zu gründlichen Empfehlungs-Algorithmus, der auf der «viewer history» beruht?
Schon, aber Doktor Osthaus sagt, den dürfe man nicht überschätzen. Zudem laufen auf Netflix bloss vier Staffeln «Der Bestatter» und auf Play Suisse alle sieben.
Play Suisse, gutes Stichwort! Läuft «Wolkenbruch» jetzt auf Play Suisse UND auf Netflix?
Nur auf Netflix. Obwohl SRF den Film mitfinanziert hat. Aber es laufen viele andere Filme mit Joel Basman auf Play Suisse! Selbstverständlich ist Netflix über die Existenz von Play Suisse not amused.
Genau! Wenn ich Schweizer Filme und Serien in allen Landessprachen sehen will, dann gehe ich auf Play Suisse. Auf Netflix will ich die Welt sehen! Dinge aus Korea, Island, Kanada. Ich will Eskapismus, nicht Heimatfilm!
Ich auch! Schweizer Film – ich weiss allzu oft warum nicht ... Aber ein internationales Publikum würde vielleicht genauso an einer guten Schweizer Serie Gefallen finden wie wir an skandinavischen Serien. Es geht doch auch um das Prinzip Hoffnung!
Hm. Kann sein. Aber ist die Schweiz dafür nicht viel zu langweilig? Wir können ja nicht immer «Heidi» verfilmen ...
Haha. Denkbar wäre ... ein Fifa-Thriller! Sagt jedenfalls Doktor Osthaus. Oder etwas aus dem History-Gothic-Grusel-Genre, etwa die Geschichte jener crazy Bohème-Kommune aus britischen Expats am Genfersee, 1816, im Jahr, als ein Vulkanausbruch den Sommer stahl, und eine blutjunge Kommunardin namens Mary Shelley «Frankenstein» schrieb. Oder SciFi im Cern oder «Succession» im Basler Pharma-Milieu oder ...
Einverstanden, die Schweiz hätte sicher Stoffe, die zwar lokal geprägt, aber doch international attraktiv sein könnten. Und schöne Landschaften! Aber hat die Schweiz auch fähige Leute?
Klar. Leider haben die Fähigsten, die allen beweisen, wie gut wir sein können, die Schweiz sehr schnell nicht mehr nötig. Joel Basman, Luna Wedler, Carla Juri sind auch im Ausland Superstars. Regisseurin Lisa Brühlmann wurde mit ihrer Arbeit für «Killing Eve» für einen Emmy nominiert und hat jetzt extrem viele Aufträge im amerikanischen Seriengewerbe. Marc Forster ist längst ein Teil von Hollywood ... Aber es gibt schon noch ein paar andere Gesichter vor und hinter der Kamera, die das könnten, da bin ich mir sicher.
Ja, ja, das Prinzip Hoffnung ... Und was sagt Doktor Osthaus?
Doktor Osthaus sagt, dass er es für einfacher hält, eine tolle Schweizer Produktion einem internationalen Publikum als Video on Demand zu verkaufen als uns. Das wird auch von einer neuen Studie des Bundesamtes für Statistik unterstützt. Das Schweizer Publikum liebt Schweizer Produktionen im linearen Fernsehen und oft auch im Kino, aber nicht als VoD. Doktor Osthaus sagt aber auch, dass eh sämtliche Fragen offen und alles flexibel sei.