Ende letzten Jahres löste der Kantonsschullehrer Philippe Wampfler auf Twitter eine hitzige Debatte über Friedrich Dürrenmatts Schulbuchklassiker «Die Physiker» aus. Er fühle sich verpflichtet, eine «rassismusfreie Umgebung» für seine Schülerinnen und Schüler zu schaffen, so der Lehrer. Der Diogenes Verlag, der die Rechte an Dürrenmatts Texten besitzt, solle auf den zweimaligen Abdruck des N-Worts in seiner Ausgabe doch bitte verzichten. Andernfalls wolle er das Werk in seinen Schulklassen boykottieren.
Viel ist über den Sinn und Unsinn dieser Forderung seither debattiert worden. Wenig bis gar nicht zur Sprache kam, ob das Werk Dürrenmatts (1921–1990) übergreifend rassistische Tendenzen aufweist. Tatsache ist: In den frühen 1960er-Jahren, als Dürrenmatt «Die Physiker» vor dem Hintergrund der atomaren Bedrohung schrieb, war das N-Wort noch fest im Wortschatz der Schweizerinnen und Schweizer verankert.
Der in den 1950er-Jahren in Bern lebende US-Autor Vincent O. Carter (1924–1983) gibt in seinem «Bernbuch» Eindrücke davon, wie schwarze Menschen zu jener Zeit hierzulande wahrgenommen wurden. Carter berichtet darin, wie die Berner ihn unverkrampft mit dem N-Wort anredeten, wie man ihn im öffentlichen Raum mit offenem Mund anstarrte und man ihm ungefragt in die Haare fasste.
Dass sich in diesen Reaktionen nicht ausschliesslich offener Rassismus zeigte, sondern oft auch unbeholfenes Staunen, erfasste Carter so weitsichtig wie sein Landsmann und Schriftstellerkollege James Baldwin. Der lebte zur selben Zeit in einem Chalet in Leukerbad. Im Essay «Fremder im Dorf» beschreibt er, wie es sich anfühlt, als Sehenswürdigkeit zu gelten und nicht als Mensch. Aber er spricht auch davon, dass dieser «Charme aufrichtiger Verwunderung» nicht immer unfreundlich gemeint gewesen sei.
Dürrenmatts wortkarger, muskelbepackter Pfleger McArthur aus den «Physikern» entstand im Nachhall jener Jahre. Der zweimal mit dem N-Wort beschriebene ehemalige US-amerikanische Mittelgewichtsboxer transportiert ein Stereotyp, das in der Schweiz auch wegen der kaum existierenden schwarzen Bevölkerung lange unhinterfragt blieb. Dürrenmatt lässt in seinem Stück allerdings sehr bewusst lauter groteske, klischierte Figuren aufeinanderprallen. «Ich halte die bucklige Jungfer und das Frauenbild, das in diesem Stück transportiert wird, aber für wesentlich problematischer», sagt sein Biograf Ulrich Weber.
Ähnlich geht es dem Dramaturgen Michael Gmaj. 2021 erarbeitete er mit dem Schauspielensemble des Theater Basel eine Rekonstruktion der Uraufführung von 1962. «Im Regiebuch von 1962 kommt das N-Wort nur einmal vor», sagt Gmaj. Den Rassismus und den Sexismus habe man aber auf keinen Fall reproduzieren wollen. Gelungen sei das nur, indem man sich noch stärker in die Groteske geflüchtet habe, als sie bei Dürrenmatt ohnehin bereits angelegt ist.
Seine erste Begegnung mit einer Person of Color hat Dürrenmatt in seinen autobiografischen «Stoffen» festgehalten. Sie muss für die literarische Entwicklung des Autors, der in einer protestantischen Pfarrerfamilie aufwuchs, prägend gewesen sein. Dürrenmatts Familie hatte einen schwarzen Missionar zu sich nach Hause an den Tisch geladen.
Ulrich Weber erinnert sich, wie Dürrenmatts Schwester ihm gegenüber die Angst geschildert habe, als der schwarze Mann sie auf den Schoss nahm. Dass viele schwarze Figuren Dürrenmatts Werk bevölkern, dürfte auf diese Begegnung zurückzuführen sein. Im frühen Stück «Der Blinde», uraufgeführt 1948, spielt eine mit dem N-Wort bezeichnete negativ gezeichnete Figur eine Schlüsselrolle.
«Dürrenmatt war nicht gefeit gegen die unterschwelligen rassistischen Gepflogenheiten seiner Zeit», sagt Weber. Er halte ihn aber für keinen Rassisten. Im Essay «Die Virusepidemie in Südafrika» (1989) rechne Dürrenmatt gar mit der Absurdität der Apartheidpolitik ab. «Er spricht im Text zeitgemäss von «Schwarzen» – das N-Wort verwendet er bewusst als Schimpfwort für ein paar durch die Virusepidemie schwarz gewordene Zürcher Banker, die als «Neger von Zürich» bezeichnet werden», sagt Weber.
Und auch im Drama «Porträt eines Planeten» (1971) werde eine Romeo- und Julia-Liebe zwischen einem schwarzen Mann und einer weissen Frau erzählt. «Die Unmöglichkeit der Liebe zwischen den beiden wegen der sozialen Vorurteile wird im Stück deutlich problematisiert.»
Jemand, den man gern um seine Meinung gefragt hätte, weil er in der Haut des Betroffenen steckt, ist der Mann, der 1962 bei der Uraufführung (Regie: Kurt Horwitz) am Schauspielhaus Zürich als wortkarger, muskelbepackter Wärter McArthur auf der Bühne stand. Eine Aufnahme zeigt einen im Hintergrund stehenden jungen Mann am rechten Bildrand, eingekleidet in eine weisse Pflegeruniform.
Es ist bezeichnend, dass über den schwarzen Darsteller, der möglicherweise Laiendarsteller war, im Archiv des Schauspielhauses so gut wie nichts mehr zu finden ist. Einzig sein Name, George James, ist überliefert. 1961 soll er auch in Knut Hamsuns «Vom Teufel geholt» (Regie: Leopold Lindtberg) mitgewirkt haben. Noch lebende Zeitzeugen wie der damalige zweite Regieassistent Bruno Hitz können sich an ihn in «Die Physiker» gut erinnern. Es sei in jener Zeit allerdings sehr ungewöhnlich gewesen, die Rolle mit einem schwarzen Darsteller zu besetzen, so Hitz.
Gut erinnern kann sich der über 80-Jährige hingegen daran, dass Dürrenmatt die Entstehung der Inszenierung bei den Endproben eng begleitet habe. «Einmal hat er einen Vorschlag von Hans-Christian Blech (als Möbius) sogar als Regieanweisung in den Text übernommen», so Hitz.
Dürrenmatt-Biograf Ulrich Weber hält es sogar für möglich, dass Dürrenmatt den Typ des McArthur erst nachträglich als Schwarzen beschrieb, weil George James für diese Rolle vorgesehen war. «Eine definitive Fassung schrieb Dürrenmatt meistens erst nach der Aufführung. Es bleibt also nicht eindeutig feststellbar, woher das alles kommt.» (aargauerzeitung.ch)
Es ist gut, diese Themen anzusprechen, einzuordnen und zu akzeptieren: Es war eine andere Zeit.