Machen Fluglotsen Fehler, kann dies verheerend enden. Aus diesem Grund arbeiten sie stets in kurzen Schichten und immer in allerhöchster Konzentration. Doch der Mensch ist nicht perfekt und Misstritte passieren selbst dem routiniertesten Profi. Passiert einem Fluglotsen ein Fehler, ist er angehalten, dies zu melden, um das Problem schnell zu erkennen und zu eliminieren. Diese sogenannte «Just Culture»-Fehlerkultur basiert auf Vertrauen und darauf, dass der Fluglotse straffrei bleibt – ausser er hat grobfahrlässig oder vorsätzlich gehandelt.
Doch mit der Straflosigkeit ist es nun vorbei. Am Donnerstag stützte das Bundesgericht ein Urteil der Vorinstanz und kam zum Schluss, dass die Schuldsprechung eines Skyguide-Fluglotsen wegen fahrlässiger Störung des öffentlichen Verkehrs rechtens war. Es ist das erste Mal, dass ein Fluglotse rechtskräftig für einen Fehler verurteilt wurde, bei dem niemand verletzt wurde.
Das Urteil bezieht sich auf einen Zwischenfall im April 2013. Eine Ryanair-Maschine bat den Tower wegen erwarteter Turbulenzen, auf eine andere Flughöhe steigen zu dürfen. Dabei nannte der Pilot sein Funkrufzeichen nicht. Der Fluglotse fragte nicht nach und erteilte einem anderen Ryanair-Flugzeug die Erlaubnis zu steigen. Dieser Pilot reagierte nicht auf diesen Funkspruch. Hingegen bedankte sich der erste Pilot für die Erlaubnis, steigen zu dürfen.
Als er zum Steigflug ansetzte, löste das Konfliktwarnsystem am Boden wegen eines sich anbahnenden Konfliktes zwischen der ersten Ryanair-Maschine und einem Flugzeug der Air Portugal einen Alarm aus. Der geringste Abstand zwischen den beiden Flugzeugen betrug horizontal 1,5 Kilometer und vertikal 198 Meter. Der vorgeschriebene Mindestabstand beträgt 9,26 Kilometer horizontal und rund 305 Meter vertikal.
Das Bundesstrafgericht verurteilte den Fluglotsen im Mai vergangenen Jahres zu einer bedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu 300 Franken. Gegen dieses erstinstanzliche Urteil reichte er beim Bundesgericht Beschwerde ein. Diese wurde nun allerdings am Donnerstag abgelehnt.
In seinem Urteil hält das Bundesgericht fest, dass der Fluglotse eine konkrete Gefährdung geschaffen und seine Sorgfaltspflichten verletzt habe. Der Verurteilte argumentierte hingegen, dass nie eine konkrete Gefahr bestanden habe, weil sich die Flugbahnen der beiden involvierten Maschinen nicht gekreuzt hätten. Dieses Argument lässt das Bundesgericht jedoch nicht gelten, weil auch unerwartete Einflüsse zu erwarten seien.
Bei der Flugsicherung Skyguide zeigt man sich schwer enttäuscht. Vladi Barrosa, Sprecher des Unternehmens, sagt: «Das ist ein schwarzer Tag für die Fluglotsen.» Viele seien ab dem Urteil verunsichert. Bisher habe das freiwillige Melden von Fehlern tadellos funktioniert. Auch im vorliegenden Fall habe der Flugverkehrsleiter den Vorfall gemeldet, wodurch eine externe Untersuchung eingeleitet worden sei. Doch die neue Handhabung der Justiz ändere nun das Verhalten der Fluglotsen bezüglich der «Just Culture»-Fehlerkultur.
So sei spürbar, dass die Qualität der Selbstmeldungen nachlassen würden. Laut Barrosa wurde früher bei einem Vorfall detailliert geschildert, was passiert ist. «Heute überlegen sich die Fluglotsen, ob sie wirklich alles sagen sollen. Denn sie wissen jetzt, dass alles, was sie melden, auch gegen sie verwendet werden kann.» Dieses Urteil helfe also der Sicherheit definitiv nicht.
Ähnlich klingt es beim Fluglotsenverband Aerocontrol: «Wir sind betroffen. Wir haben bis zuletzt gehofft, dass es anders rauskommt und auf die Beschwerde des Fluglotsen eingegangen wird», sagt Marianne Iklé, Fluglotsin und Sprecherin von Aerocontrol.
Das Urteil sei belastend und das wirke sich auch auf die Arbeit aus. Um diesen Umstand abzufedern, würden nun kurzfristige Kapazitätsmassnahmen getroffen. Iklé sagt: «Leider ist der Zeitpunkt dafür denkbar ungünstig. Denn ausgerechnet jetzt beginnt die grosse Ferienzeit und am Flughafen herrscht die verkehrsreichste Woche. Für uns heisst das: Wir sind maximal ausgelastet.»
Für die Fluglotsen schaffe das Urteil eine völlig neue Ausgangslage. Noch ist unklar, welche Konsequenzen der Entscheid auf die Schweizer Luftfahrt – und eventuell auch andere Branchen – haben werde.
Wegweisend dürfte das Urteil für die zwei weiteren Fälle sein, die vor Gericht noch hängig sind. So hatte ein Fluglotse im März 2011 zwei Airbus-Maschinen auf sich kreuzenden Pisten fast gleichzeitig die Startfreigabe gegeben. Das Zürcher Obergericht befand den Fluglotsen für schuldig. Der Fall ist noch nicht rechtskräftig, der Verteidiger hat ihn ans Bundesgericht weitergezogen.
Am Zürcher Obergericht hängig ist ein Fall, der sich im August 2012 zugetragen hat. Damals kamen sich ein Sportflugzeug des Typs Sportcruiser und eine Saab 2000 der Darwin Airlines sehr nahe. Die Sportmaschine flog in einem 90-Grad-Winkel direkt auf die Saab-Maschine zu. Ob das wirklich gefährlich war und wer die Schuld dafür trägt, darüber sind sich Staatsanwaltschaft und der Fluglotse uneinig.
Urteil 6B_1220/2018 vom 27.06.2019