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Migration

Asyl: Bundesverwaltungsgericht am Anschlag wegen mehr Rekursen

Aussenansicht des temporaeren Bundesasylzentrums Pasture, am Donnerstag, 8. Oktober 2020, in Balerna. Das Provisorium am Standort Balerna ist mit 220 Schlafplaetzen ausgestatet. Das definitive Bundesa ...
Asylbewerber im temporaeren Bundesasylzentrum Pasture.Bild: KEYSTONE/TI-PRESS

Bundesverwaltungsgericht am Anschlag wegen mehr Asyl-Rekursen

Die Rechnung ist einfach: Mehr Asylgesuche bedeuten mehr Beschwerden. Das Bundesverwaltungsgericht schlägt jetzt Alarm: Es könne nicht garantieren, die Rekurse ohne zusätzlichem Personal genug schnell behandeln zu können.
09.05.2023, 09:38
Kari Kälin / ch media
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Er leide unter ständigen Kopfschmerzen, werde oft ohnmächtig, in Bulgarien habe er die nötigen Medikamente nicht erhalten und sei von der Polizei geschlagen worden. Das Bundesverwaltungsgericht fand: Die Schweiz muss nicht auf das Asylgesuch des Marokkaners eintreten, weil er schon in Bulgarien eines gestellt habe und die medizinische Versorgung dort gewährleistet sei. Es handelt sich um eines von mehreren Urteilen aus dem Asylbereich, welches das Bundesverwaltungsgericht am Montag publiziert hat. Es ist in vielerlei Hinsicht typisch: Es geht um einen Dublin-Fall (ein anderes Land im Schengenraum ist zuständig für das Asylverfahren), und es wurde abgelehnt.

Das Bundesverwaltungsgericht hiess im letzten Jahr nur 3 Prozent, 116 von 3625 erledigten Rekursen im Asylbereich, gut. 63 Prozent der Beschwerden wurden abgeschmettert, die anderen wurden entweder abgeschrieben, das Gericht trat gar nicht erst darauf ein oder das Dossier wurde zur Neubeurteilung an die Vorinstanz, das Staatssekretariat für Migration, zurückgewiesen.

Obwohl die Richter quasi am Fliessband Asylbeschwerden abarbeiten, geraten sie an den Anschlag. Der Grund ist einfach: Mehr Asylgesuche generieren mehr Rekurse - was die Zahl der Pendenzen in die Höhe treibt. Das Bundesverwaltungsgericht kommt deshalb zum Schluss: Mit dem bestehenden Personal kann es nicht mehr gewährleisten, dass die Beschwerden im Asylbereich innert der gesetzlichen Fristen behandelt werden können. Je nach Art der Verfahren betragen sie 5, 20 oder 30 Tage. Verzögert sich der Prozess, untergräbt dies zum einen das Ziel der Politik, die Verfahren rasch zu erledigen. Zum anderen bleiben die Beschwerdeführer längere Zeit im Schwebezustand und wissen nicht, wie es nun mit ihren weitergeht.

Im letzten Jahr gingen 3460 neue Beschwerden ein, 400 mehr als im 2021. In diesem Jahr rechnen die Richter in St. Gallen sogar mit 5200 Beschwerden - nicht ohne Grund. Zwar rechnet der Bund in seinem wahrscheinlichsten Szenario mit ungefähr gleich vielen Asylgesuchen (24000), aber in den ersten drei Monaten fochten Asylsuchende doppelt so viele Entscheide (28 Prozent) an wie noch im vergangenen Jahr. Seit das neue Asylgesetz 2019 in Kraft getreten ist, erhalten alle Asylsuchenden eine kostenlose Rechtsvertretung. Die Hoffnungen, dass die Beschwerdequote dadurch sinkt, haben sich offenbar nicht erfüllt.

Das Bundesverwaltungsgericht hat jetzt bei der zuständigen parlamentarischen Kommission mehr Personal beantragt. Wie viele Stellen es neu schaffen möchte, verrät es nicht, «weil wir dem Meinungsbildungsprozess nicht vorgreifen möchten», wie Sprecher Rocco Maglio sagt.

Letztmals gewährte das Parlament dem Bundesverwaltungsgericht 2017 vier zusätzliche, befristeten Vollzeitstellen, um die Pendenzen im Asylbereich abzubauen. Aktuell weisen die beiden für den Asylbereich zuständigen Abteilungen 24 Vollzeitstellen für Richterinnen und Richter sowie 70 Vollzeitstellen bei den Gerichtsschreibenden aus.

Klickt man sich durch die zahlreichen, täglich publizierten Urteile, wird klar: Viele Beschwerden, vor allem von Asylsuchenden aus Ländern mit tiefer Anerkennungsquote, scheinen von Beginn an wenig aussichtsreich. Doch ist die Gutheissungsquote auch deshalb tief, weil das Bundesverwaltungsgericht generell eine zu harte Linie fährt? Rechtsanwältin Lea Hungerbühler ist Gründerin und Präsidentin des Vereins Asylex, der Asylsuchende in Rechtsfragen unterstützt. Sie könne diese Frage beurteilen für Fälle, die der Verein vor einen Uno-Ausschuss weitergezogen haben. Es geht dabei um besonders verletzliche Personen, also Frauen, Kinder und Kranke. Bei diesen Fällen erhalte Asylex fast immer recht, sagt Hungerbühler. In der Tat: Bis jetzt beantworteten die Uno-Ausschüsse 31 von 39 Anträgen mit sogenannten «interim mesasures». Das bedeutet: Die betroffenen Personen dürfen solange in der Schweiz bleiben, bis die Uno-Ausschüsse einen definitiven Entscheid über den Rekurs fällen. Grundsätzlich kritisiert Hungerbühler, dass Asylbeschwerden abschliessend vom Bundesverwaltungsgericht entschieden und nicht ans Bundesgericht weitergezogen werden können. (aargauerzeitung.ch)

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