In der Schweiz wird häufig abgestimmt. Allein letztes Jahr durfte die Stimmbevölkerung über 13 eidgenössische Gesetzes- oder Verfassungsänderungen entscheiden. Der Vorgang ist dabei eigentlich sehr einfach: Man schreibt auf dem Stimmzettel neben der Abstimmungsfrage ein «Ja», «Nein» oder gar nichts hin. In gewissen Kantonen darf sogar angekreuzt werden.
Klingt einfach, ist es aber nicht immer. Das Problem liegt bei der Abstimmungsfrage: Sie ist hochgradig abstrakt. Geht es um ein Referendum, beinhaltet die Frage nur gerade mal den Gesetzestitel. Geht es nach dem Nationalrat, soll sich dies künftig ändern: Der Titel einer Gesetzesvorlage soll besser aussagen, über was überhaupt abgestimmt wird. Ein Vorstoss von GLP-Präsident Jürg Grossen wurde dazu am Donnerstag mit 132 zu 53 Stimmen angenommen – ablehnende Stimmen gab es vor allem bei der Mitte und FDP (siehe unten).
Ein Beispiel dazu: Im November des letzten Jahres stimmte die Schweiz über das Covid-Gesetz ab. Es war eine politisch aufgeladene Abstimmung, die Gegnerschaft wollte das Gesetz wegen der Zertifikatspflicht kippen. Auf dem Stimmzettel stand jedoch nichts davon – dort hiess es lediglich:
Das war keine Absicht und schon gar nicht eine Irreführung. Solche und andere Falschbehauptungen wurden im Abstimmungskampf sogar von Nationalräten gestreut. Der Grund lag woanders: Die Möglichkeit, dass der Bund Covid-Zertifikate herausgeben darf, stand nicht am Anfang der Gesetzesdebatte. Sie kam nachträglich rein, wobei niemand daran dachte, dass das Wörtchen «Zertifikat» auch im Gesetzestitel erwähnt werden soll.
Korrigieren hätte dies die sogenannte «Redaktionskommission» können: Alle Parteien sind dort vertreten und haben die Aufgabe, einen letzten «sprachlichen Blick» aufs Gesetz zu nehmen. Das fehlende «Zertifikat»-Wort fiel niemandem auf, schon gar nicht dem SVP-Parteipräsidenten Marco Chiesa, dessen Kollegen später im Abstimmungskampf die «Irreführung durch Gesetzestitel» anklagten.
Die Redaktionskommission schwieg, weil ihre Arbeit sich üblicherweise auf den Gesetzesinhalt richtet: Sie soll «redaktionelle Berichtigungen» prüfen und dafür sorgen, dass «die Texte verständlich und knapp formuliert sind». Dabei geht es auch darum, dass ein Gesetz in allen Sprachen dasselbe aussagt. Unproblematische Änderungen darf die Redaktionskommission selbstständig vornehmen. Bei inhaltlich schwerwiegenden Änderungen braucht es in der Regel erneut eine Abstimmung durch National- und Ständerat.
Der Gesetzestitel, der dann auf dem Stimmzettel bei Referenden landet, steht nicht üblicherweise auf der Prüfliste. «Ein Gesetz könnte auch ‹Bundesgesetz, mit dem das Strafgesetzbuch mit 43 Artikel und 129 Absätzen ergänzt wird› heissen – der Titel ist für die Parlamentsarbeit nicht so wichtig. Wir müssen nur wissen, dass es sich um das Strafgesetzbuch handelt und was die Geschäftsnummer ist», erzählte letztes Jahr ein Nationalrat im Hintergrundgespräch. Die Lehren beim Covid-Gesetz zeigten aber mittlerweile auf, dass Korrekturen notwendig sind.
Grossens Vorstoss stiess nicht überall auf Gegenliebe: Eine kleine Minderheit von Mitte- und FDP-Politikern wollte ihn versenken. Sie begründeten ihr «Nein» damit, dass es dafür keine Gesetzesänderung brauche. Bei der Abstimmung obsiegten schliesslich die Befürworter: Der Vorstoss wurde mit 132 zu 53 Stimmen angenommen.
Grossens Grund für die Gesetzesänderung lag aber nicht beim Covid-Gesetz: Er lancierte den Vorstoss wegen der Abstimmung im September 2020, bei der das Volk die Erhöhung von mehreren Steuerabzugsmöglichkeiten für Eltern ablehnte. Auf dem Stimmzettel stand damals:
Das Gesetz wollte auch den «allgemeinen Kinderabzug» erhöhen, von dem alle Eltern profitiert hätten – nicht nur jene, die ihre Kinder in die Kita schicken. Grossen ärgerte sich darüber und forderte mit dem Vorstoss «mehr Transparenz» für die Stimmberechtigten. Mit Erfolg: Das Parlament wird sich nun überlegen müssen, wie die Änderung durchgesetzt wird.
Möglich ist, dass ein neues Gesetz geschaffen wird, in dem das Parlament ausdrücklich zur klareren Umschreibung des Gesetzesinhalts im Titel verpflichtet wird. Ein solches Gesetz könnte aber dazu führen, dass Bürgerinnen und Bürger gerichtlich klagen könnten und der Stimmzettel zu Juristinnenfutter wird. Realistischer ist deshalb eine Minianpassung des Parlamentsgesetzes, damit nicht mehr nur auf Inhalte, sondern auch auf Gesetzestitel geschaut wird. Das Parlamentsgesetz sieht heute schon vor, dass die Redaktionskommission bei wichtigen «Lücken» aktiv werden muss.
Ps: finde die Grafik sehr gelungen.
Ich denke aber, dass es bleiben sollte, wie es momentan ist, denn dieser kleine Intelligenztest, ob man eine Initiative oder ein Referendum annehmen oder ablehnen muss, verhindert, dass jeder politisch Uninteressierte irgendwo sein Kreuzchen macht, nur weil es die SVP oder eine andere Partei ihm vorgibt.
Ich wäre drum dafür, die politische Bildung zu fördern, statt die Anforderungen zu senken, aber da wäre die SVP sicher dagegen. 😉