Man lernt es in der Schule und muss es beim Einbürgerungstest wissen: In der Schweiz hat nicht irgendein Bundeskanzler oder Regierungschef das «höchste Amt», sondern der Nationalratspräsident. Im Jahr 2021 hatte die SVP das Glück, nicht nur im Ständerat, sondern auch in der grossen Kammer den Chefposten besetzen zu dürfen. Nächste Woche kommt es aber zu einem Wechsel: Der Berner SVP-Politiker Andreas Aebi wird den Thronplatz unter der Bundeshauskuppel an die Grüne Irène Kälin abgeben dürfen.
Kälins Job wird kein einfacher sein: Sie wird die teils mehrere Stunden langen Sitzungen leiten und orchestrieren dürfen, ohne im Normalfall selbst abstimmen zu dürfen. Das braucht einerseits höchste Konzentration, andererseits auch viel Schnauf – wie einer der lustigsten Auftritte des noch amtierenden Nationalratspräsidenten Aebi zeigt (siehe Video). Was wann und wie beschlossen wird, muss protokollmässig ins Mikrofon gesagt werden, auch dann, wenn es keine Gegenmeinung gibt.
Und wenn ein Antrag oder ein Gesetz umstritten ist, oder es gar zu einem Gleichstand der Stimmen kommt, dann muss die künftige Nationalratspräsidentin Irène Kälin das mächtigste Recht ihres Amtes nutzen: Sie muss den Stichentscheid fällen. Sie sagt, ob «Ja» oder «Nein» gewinnt, wenn das Ergebnis beispielsweise 90 zu 90 Stimmen ist. Die SVP konnte dieses Jahr gleich in beiden Parlamentskammern den Präsidenten stellen und gewann damit im zweiten Corona-Jahr an Macht.
Aebi musste in seiner Amtszeit gleich in sieben Abstimmungsfragen den Stichentscheid fällen. Sechsmal tat er das im Sinne der SVP, etwa dann, als seinetwegen ein Dividenden-Verbot für Unternehmen, die Covid-Härtefallmassnahmen beantragen wollten, scheiterte. Einmal fällte er aber den Stichentscheid im Sinne der Ratslinke. Da ging es um Kurzarbeits-Entschädigungen, die auch rückwirkend bewilligt werden sollten. Die SVP behauptete im Nachhinein, Aebi habe sich vertippt, und forderte eine Wiederholung der Abstimmung – jedoch ohne Erfolg zu haben.
Der abtretende SVP-Nationalratspräsident Aebi gibt deshalb seiner grünen Nachfolgerin Irène Kälin einen Tipp, wie er gegenüber watson verrät: «Sie sollte immer darauf gefasst sein, dass ein Stichentscheid notwendig wird.» Dieser Ratschlag wird Kälin jedoch nicht grosse Sorgen bereiten müssen: Sie wusste, worauf sie sich beim Nationalratspräsidiums-Job einlässt und konnte dieses Jahr genug lang üben.
Das hat damit zu tun, wie dieses Amt gewählt wird: Die grossen Fraktionen stimmen sich zu Beginn jeder Parlamentslegislatur ab, welche Partei wann das Präsidium übernehmen darf. Kälin musste dafür eine Art Ochsentour durchmachen: Vor zwei Jahren war sie zweite Nationalratsvize, heuer sass sie auf dem Vizepräsidenten-Stuhl. Am nächsten Montag folgt die nächste Beförderung, falls es zu nicht zu einer Überraschung kommt.
Damit rechnet jedoch niemand: Kälin liess als Vizepräsidentin in diesem Jahr keine Zweifel aufzukommen, dass sie dem höchsten Schweizer Amt nicht gerecht werden würde. Die heute 34-Jährige schaffte es parallel zu ihrem kometenhaften Karrieresprung zudem, Fortschritte im Bereich der Gleichstellung zu erreichen.
So nahm sie 2018 ihr drei Monate altes Kind mit in den Nationalratssaal – so, als wäre es das Normalste im altehrwürdigen Bundeshaus (nur die SVP ärgerte sich darüber). Und sie erreichte damit, dass es auch zum Normalsten wird: Das Parlament dachte danach laut über ein abgeschlossenes Stillzimmer für Mütter nach. Vor zwei Jahren – sprich: 48 Jahre nach der Einführung des Frauenstimmrechts – wurde gar ein Wickeltisch eingerichtet.
Wird da ein Wickeltisch im Bundeshaus installiert? wäre zeitgemäss. @Bundeshaus_Bern @ParlCH @chparlament pic.twitter.com/Ire2kjK9bO
— Mattea Meyer (@meyer_mattea) November 5, 2019
Die SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer (selbst zweifache Mutter) kommentierte damals die Aufstellung des «Muster-Wickeltischs» als «zeitgemäss». Kälin greift in Gleichstellungsfragen zu deutlicheren Worten: «Das Bundeshaus gehört uns allen zu gleichen Teilen, wir müssen die Plätze einnehmen, die uns zustehen.»
Und auch sonst scheut die Grüne-Senkrechtstarterin aus dem konservativ geprägten Aargau nicht, zu ihrer dezidiert linken Meinung zu stehen. Ihre Karriere nahm dadurch keinen Schaden: 2014 wurde sie 27-jährig ins Kantonsparlament gewählt, drei Jahre später rückte sie für den zurückgetretenen Parteikollegen Jonas Fricker in den Nationalrat nach. Fricker trat damals zurück, nachdem er im Parlament Schweinetransporte mit der Deportation von Juden verglichen hatte.
Und nun, vier Jahre später, wird sie aller Voraussicht nach Präsidentin des Nationalrats. Diesen steilen Karrieresprung hat Kälin auch ihrem «Promifaktor» zu verdanken: Sie liess sich während ihrer Schwangerschaft von der «Schweizer Illustrierten» durchs Bundeshaus begleiten oder vertrag am Jassturnier des Magazins die Politprominenz.
Neben ihrem Nationalratsmandat und dem Vollzeit-Job als Mutter, arbeitet Kälin zudem als Präsidentin des Aargauer Dachverbands der Arbeiterinnen- und Arbeiter-Organisationen. Sie ist studierte Islamwissenschaftlerin und hat einen Master in Religionskulturen.