Andrea Studer beschäftigt sich schon fast ihr gesamtes Arbeitsleben mit Benzin, Heizöl und Kerosin. Sie arbeitet seit 27 Jahren bei Carbura, jener Organisation, die seit der Zwischenkriegszeit sicherstellt, dass die Schweiz auch in einer Notlage auf ausreichend Vorräte an Mineralölprodukten zurückgreifen kann.
Seit 2019 verwaltet Studer als Chefin der Pflichtlagerorganisation die Benzin-, Diesel-, Kerosin- und Heizöllager, die im Notfall eine Versorgungslücke überbrücken. Dafür stehen 55 Tankanlagen mit einem Fassungsvermögen von insgesamt 6.8 Milliarden Liter zur Verfügung.
Diese Pflichtlager, die zuletzt zu zwei Drittel gefüllt waren, zapfen die Importeure angesichts des Ukraine-Kriegs, des rekordtiefen Rheinpegels sowie wegen des Bahnchaos in Europa jetzt an. Ende Juli hat das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung zugestimmt, dass die Pflichtlagerhalter ihre Vorräte um 6.5 Prozent unterschreiten dürfen. In der vergangenen Woche kam die Zusage, dass die Mineralölfirmen bis Ende September weitere 12.8 Prozent der Notvorräte beziehen können – damit an der Tankstelle oder beim Heizöllieferanten der Treib- und Brennstofffluss nicht versiegt.
Dass die Pflichtlager nun eingesetzt werden, ist für Studer zwar kein «erstmaliges ausserordentliches Ereignis», wie sie sagt. Dennoch hat der Entscheid des Bundes, auf die Reserven zurückzugreifen, historische Qualität. Weder während der Suez-Krise (1956) noch während der beiden Erdölkrisen (1973/1974 und 1979) und des Irak-Kriegs (2003–2011) musste die Schweiz auf die Reserven zurückgreifen. «Erstmals haben wir die Pflichtlager im Jahr 2010 freigegeben», sagt Studer. Damals behinderten Streiks in Frankreich die Kerosinlieferungen an den Flughafen Genf.
Seither kam es vier Mal vor, dass die Pflichtlager einspringen mussten, weil nicht mehr genügend Benzin, Diesel oder Heizöl in die Schweiz importiert werden konnten. Im Jahr 2015 war es der trockene Sommer und damit der tiefe Pegelstand des Rheins sowie ein technisches Problem in der Raffinerie Cressier. Im Hitzesommer 2018 führte der Rhein ebenfalls wenig Wasser, hinzu kam der Ausfall der deutschen Raffinerie Vohburg. Im Jahr 2019 behinderten Bahnlogistik-Probleme die Importe – wie dieses Jahr, nur dass zusätzlich ein heisser Sommer und der Krieg in Europa die Lage verschärft haben.
Die Gründe für die bisherigen Engpässe unterscheiden sich – trotzdem zeichnet sich ab, dass sich die Versorgungsstörungen häufen und Pflichtlager an Bedeutung gewinnen.
Panik will die Carbura-Chefin aber keine schüren. «Die Pflichtlager wurden für solche Situationen geschaffen. Wenn verschiedene Krisen – Krieg, Trockenheit, Logistikprobleme, Störungen in Raffinerien – zusammenwirken, kann es die Branche allein nicht mehr abfangen und wir müssen auf die Pflichtlager zurückgreifen. Darauf sind wir vorbereitet.»
Die Branche, das sind in diesem Fall Mineralölfirmen, die Erdölprodukte in die Schweiz importieren. Ab einer definierten Einfuhrmenge sind sie gesetzlich dazu verpflichtet, Pflichtlager anzulegen. In ihren Tanks lagert deshalb zusammen mit ihrer üblichen Handelsware eine gewisse Anzahl Liter Treib- und Brennstoff, die sie vorrätig halten und nicht antasten dürfen.
Diese Krisenvorsorge funktioniert in der Schweiz nach dem bekannten Subsidiaritätsprinzip: Nicht der Bund lagert selbst Treibstoff, sondern die Wirtschaft übernimmt diese Aufgabe, überwacht und gesteuert vom privaten Verein Carbura. Die Kosten für die Lagerhaltung tragen die Konsumenten mit einer Abgabe, die beim Import erhoben wird.
Insgesamt lagern in den Tanks der Carbura-Mitglieder Benzin-, Diesel- und Heizölvorräte für 4.5 Monate, beim Flugzeugpetrol reichen sie für 3 Monate. Die Mengen sind an den durchschnittlichen Absatz der vergangenen drei Jahre gekoppelt. Da der Verbrauch von Benzin, Diesel und Heizöl – bei Kerosin stagniert der Verbrauch – rückläufig ist, lagert die Schweiz in absoluten Zahlen immer weniger Liter Treib- und Brennstoffe.
Um die bundesrätlichen Vorgaben abzudecken, ist also nicht mehr so viel Tankraum nötig. In den vergangenen zehn Jahren sank die Kapazität um fast eine Million Kubikmeter auf noch 6.8 Millionen Kubikmeter. Aus Sicht des Umweltschutzes ist dies eine gute Nachricht – aus Sicht der Versorgungssicherheit aber weniger, findet Andrea Studer.
Sie ist skeptisch, dass die Schweiz mit der Energiestrategie und dem Zubau an erneuerbaren Energien Versorgungsprobleme, wie sie der Krieg in der Ukraine offengelegt hat, meistern kann. «Solange wir erneuerbaren Strom nicht in ausreichendem Mass speichern können, um Produktion und Verbrauch in Einklang zu bringen, brauchen wir fossile Energieträger auch als Reserven für den Notfall», sagt sie.
Soll die Schweiz also wieder so viel Benzin und Diesel bunkern, wie sie das bis zum Ende des Kalten Krieges getan hatte, als die Vorräte neun Monate reichten? Nein, findet Studer. «Aber es wäre unklug, wenn wir die bestehenden Möglichkeiten nicht nutzen. Wir sollten auch bei der Krisenvorsorge auf verschiedene Energieträger – nicht nur auf die erneuerbaren – abstellen.» Die Botschaft in eigener Sache: Die Carbura braucht es auch in Zukunft. Denn wenn dereinst wie geplant die fossilen Treib- und Brennstoffe ganz aus dem Alltag verschwinden, würde beim gleichbleibenden Ziel, Vorräte für 4.5 Monate zu halten, auch die Pflichtlagerhaltung irgendwann hinfällig.
Doch danach sieht es im Moment nicht aus. Im Gegenteil. Krieg in der Ukraine, die Inflation und Lieferengpässe sorgen dafür, dass Studer die politische Konjunktur auf ihrer Seite weiss. Diese Entwicklung zeichnete sich bereits zu Beginn der Pandemie ab – beim Treibstoff ebenso wie bei den Nahrungsmitteln. So wies etwa im Frühjahr 2020 der Luzerner Mitte-Nationalrat Leo Müller in einem Vorstoss auf die Bedeutung der Ernährungssicherheit hin, nachdem die Konsumenten in der Krise die Läden gestürmt hatten. Er fragte den Bundesrat, ob die Pflichtlagerbestände noch ausreichend seien.
Die Entscheidung darüber, ob die Schweiz mehr Liter Benzin oder Diesel lagern soll, liegt letztlich bei der Politik. Konkret bei Guy Parmelins Wirtschaftsdepartement. «Um im Rahmen des heutigen Systems einer weiteren Abnahme der Tankraumkapazitäten und der absoluten Pflichtlagermengen entgegenzuwirken, müsste das Wirtschaftsdepartement die Vorgabe für die Bedarfsdeckung für Mineralölprodukte erhöhen oder höhere absolute Mindestvorratsmengen vorschreiben», hält das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung auf Anfrage fest.
Bis Ende September dürfen die Mineralölfirmen nun die Pflichtlager anzapfen. Sie greifen dankbar darauf zurück: Laut Studer haben sie von der im Juli bewilligten Menge bereits 85 Prozent bezogen und an die Kundschaft weitergegeben.
Der Bund rechnet mit einer baldigen Normalisierung. Bis Ende September sollte sich der Pegelstand des Rheins erholt haben. Sollte sich auch die Bahnsituation in Deutschland normalisieren, ist eine Versorgung ohne Einsatz von Pflichtlagern wieder möglich und – je nach Nachfrage – auch ein Auffüllen der Lager.
Andrea Studer bleibt vorsichtig. Für sie ist Versorgungssicherheit zentral. Sie hält auch privat einen Notvorrat an Lebensmitteln und Wasser und hat eine Brennholzreserve für zwei Jahre angelegt, um ihr Cheminée heizen zu können. «Wenn wir einen kalten Winter haben, müssen sich die Bürger wohl einschränken. Darauf müssen wir uns vorbereiten.» (aargauerzeitung.ch)
Habe aber kein Auto.
Irgendwie gefallen mir diese ständigen Pseudopersonalisierungen in den Titeln und Texten nicht. Das wirkt irgendwie immer so "creepy"