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Touristen blockieren mit Koffern die Züge – jetzt reagieren die Bahnen

Asiatische Touristen warten auf den Zug, am Samstag 6. August 2011, in Interlaken West. Der starke Schweizer Franken macht der Tourismusbranche Sorgen und haelt die Touristen fern. (KEYSTONE/Peter Sch ...
Asiatische Touristen warten auf den Zug, am Samstag 6. August 2011, in Interlaken West.Bild: KEYSTONE

Touristen blockieren mit Koffern die Züge – jetzt reagieren die Bahnen

In der Schweiz sind so viele Touristen unterwegs wie nie. Immer mehr von ihnen nutzen auf eigene Faust den öffentlichen Verkehr. Das wird für diesen zum Problem. Jetzt reagieren die Bahnen und sperren zum Teil ganze Abteile.
04.03.2024, 14:13
Stefan Ehrbar / ch media
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Die Schweiz feierte 2023 einen Tourismusrekord: 41,8 Millionen Übernachtungen in Hotels wurden gezählt, so viele wie nie. Gleichzeitig steigt der Anteil von Gästen, die mit dem Zug umherreisen. In den ersten zehn Monaten des Jahres verkaufte die Organisation Swiss Travel System 24 Prozent mehr ÖV-Pässe für Touristinnen und Touristen als im bisherigen Rekordjahr 2019. Die Firma erzielte einen Rekordumsatz von 360 Millionen Franken. Das zeigen Zahlen, die CH Media vorliegen.

Die Organisation, die mehrheitlich den SBB gehört, konnte die Umsätze mit Gästen aus Frankreich, Spanien, den USA oder Indonesien sogar mehr als verdoppeln. Es gibt nur ein Problem: Die neuen ÖV-Nutzer haben oft viel Gepäck dabei. Das liegt auch daran, dass sie meistens auf eigene Faust unterwegs sind. Der Anteil von Gruppenreisen mit organisiertem Gepäcktransport nimmt nämlich rasch ab.

Was den ÖV-Betrieben Einnahmen bringt, zwingt sie auch zu Investitionen, denn der Platz wird knapp in den Fahrzeugen. Viele Gäste wollen ihre Koffer immer in Griffnähe haben und versperren damit Abteile oder Durchgangswege. Auf besonders beliebten Routen wiederum sind die Gepäckabteile zu klein für den Ansturm in Spitzenzeiten. Die Folge: Sitzplätze werden versperrt und Züge verspäten sich, weil das Ein- und Aussteigen länger dauert.

Zentralbahn reduziert Kontingente

Die Zentralbahn, die die Züge im touristisch attraktiven Dreieck Luzern, Engelberg und Interlaken betreibt, hat deswegen eine Arbeitsgruppe eingesetzt. Erste Lösungen wurden schon gefunden. «In einem Pilotprojekt wurden Sitze in den Wagen entfernt und Platz für mehr Gepäck gemacht», sagt Sprecher Thomas Keiser.

Mit Spartickets würden die Passagierströme aktiv gelenkt. Es gebe Durchsagen des Zugpersonals auf Deutsch und auf Englisch, die auf die korrekte Platzierung des Gepäcks und auf das Freihalten der Türen aufmerksam machen. Und: Per Mai werden in den Zügen der Strecke Luzern-Interlaken Ost acht neue Abteile für Koffer, sogenannte Rollgepäckwagen, installiert.

Die neuen Rollgepäckwagen.
Die neuen Rollgepäckwagen.Bild: Zentralbahn

Damit ist aber noch nicht Schluss: Die Zentralbahn hat sämtliche Kontingente für Gruppenreisen reduziert und lässt längere Züge fahren. Statt siebenteilige Kompositionen sind nun zehnteilige über den Brünig unterwegs. Entschärfen sollte sich die Situation ab 2025 zudem mit neuen Zügen, die über grössere Gepäckablagen verfügen werden. Beim älteren Rollmaterial werde man andere Lösungen finden müssen, sagt Keiser.

Eine Zunahme von Individualreisenden mit Gepäck stellt auch die Rhätische Bahn fest, insbesondere in den touristischen Zügen wie dem Glacier Express und dem Bernina Express. Die Bahn musste vorübergehend zu einer drastischen Massnahme greifen, wie Sprecherin Yvonne Dünser sagt. Zurzeit seien im Bernina Express die Sitze neben der Gepäckablage gesperrt worden. «Dort wurden die Gepäckstücke an gewissen Tagen so hoch gestapelt, dass die Reisenden auf der gegenüberliegenden Seite keine schöne Aussicht mehr hatten.»

Rhätische Bahn sperrt Abteile

Die Wagen des Zugs, der zwischen Chur und dem italienischen Tirano unterwegs ist, werden derzeit saniert. Bis Anfang der Sommersaison 2025 sollen die Arbeiten abgeschlossen sein. Damit wird mehr Platz für die Gepäckablage geschaffen. «Auch wir stellen fest, dass vermehrt Individualreisende auf unseren Zügen unterwegs sind. Diese Tendenz wird sich wohl noch verstärken», sagt Dünser.

Eines der neuen Multifunktionsabteile der SOB.
Eines der neuen Multifunktionsabteile der SOB.Bild: SOB

Einen innovativen Weg hat die Südostbahn (SOB) eingeschlagen, die etwa die Interregio-Züge über die Gotthard-Bergstrecke oder zwischen Zürich und Chur betreibt. In einem Pilotprojekt testet sie ein «flexibles Abteil». Dabei handelt es sich um Sitzgruppen, die mit wenigen Handgriffen auf die Seite geklappt werden können und Platz für Velos oder Gepäck freimachen. An den Resultaten des Versuchs dürfte die ganze Branche interessiert sein.

Mehr Velos, weniger Sitze

Die SOB stelle eine steigende Anzahl an Fahrgästen fest, die mit Velos oder grossem Gepäck reisten, sagt Sprecher Conradin Knabenhans. Das könne in Spitzenzeiten dazu führen, dass der Ein- und Ausstieg mehr Zeit benötige, und «einige wenige Verspätungsminuten» verursachen. Das Zugpersonal achte darauf, dass die Sicherheit jederzeit gewährleistet sei: «Ist etwa das Veloaufkommen zu gross, müssen Reisende punktuell auf andere Verbindungen ausweichen, um die Fluchtwege freihalten zu können.»

Weniger ausgeprägt ist das Problem bei der Berner Bahn BLS. In ihren Zügen sind laut Sprecher Stefan Locher zwar «sehr viele» ausländische Individualreisende unterwegs, die Tendenz sei wohl steigend. Das führe aber nicht zu Problemen beim Gepäcktransport oder mehr Verspätungen. Auf den touristischen Strecken würden überwiegend Züge des Typs Mika eingesetzt, die über Multifunktionszonen mit viel Platz für Velos, Gepäck oder Kinderwagen verfügen.

Ähnlich tönt es bei den SBB. Probleme wegen Touristen mit viel Gepäck gebe es nicht, aber das Bedürfnis für mehr Platz für Gepäck und Velos sei spürbar. Deshalb würden die Multifunktionszonen vergrössert. Bis im Herbst 2025 erhalten etwa 16 weitere Doppelstockwagen des Typs IC 2000 solche Zonen mit Stauraum für Gepäck und Kinderwagen und fünf Veloplätzen. Diese Wagen werden laut Sprecher Bas Vogler vor allem auf den Linien ins Wallis und nach Graubünden eingesetzt werden.

Dem Gepäckproblem zum Trotz sind die Touristen gerne gesehene und wichtige Gäste für den öffentlichen Verkehr. Sie bezahlen hohe Preise für die Nutzung von Bahn, Bus und Tram, belasten aber das System wenig, weil sie zur morgendlichen Stosszeit oft noch im Hotel beim Frühstück sitzen. Zudem ermöglichen sie gerade dünner besiedelten Gebieten in den Bergen ein ÖV-Angebot, das sich alleine durch die lokale Nutzung nur schwer rechtfertigen liesse. (bzbasel.ch)

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160 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Ovolover
04.03.2024 14:45registriert März 2016
Man vergleiche den Platz für Gepäck früher vs. heute.

In gewissen Zügen passt gerade mal ein Aktenkoffer in die Ablage über Kopf. Ganz übel sind die IC-Neigezüge, da wird es sogar für Aktenkoffer zu eng. Und diese Züge wurden für Reisestrecken konstruiert. Auch Doppelstöcker sind äusserst sparsam mit Platz für Gepäck versehen.

Wobei auch die Grösse der Koffer zugenommen hat.
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George Cloowney & Brad Pildo
04.03.2024 14:42registriert November 2022
... könnte man am Zugende nicht ein paar Rollkofferkupplungen anbringen? Die Reisenden sitzen auf den Rollkoffern und werden mit einer speziellen Haltevorrichtung über dem Gleis mitgezogen?
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goschi
04.03.2024 14:22registriert Januar 2014
Es wäre echt schön, würde das Zugpersonal die Rollkoffer im Abteil haltenden darauf hinweisen, dass dies so nicht geht.
Denn das führt immer mehr dazu, dass dann pro 1 Person und 1 Koffer ein 4er Abteil belegt ist.

Superironisch, wenn das im Veloabteil der IC2000 passiert, sehe ich (als Pendler mit Velo im Zug) täglich im IC6/61 von Basel kommend, dass da gerne eine 4er Gruppe reisende 3! Abteile belegt damit. Statt die Koffer vorne im Lagerbereich zusammenzustellen.
Die Rollkoffer werden auch immer grösser...

Es ist leider tatsächlich ein extrem mühsamer Trend.
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