Herr Wirth, dass die Kirchen ein Problem mit sexuellen Übergriffen in den eigenen Reihen haben, ist nicht neu. Warum haben Sie dennoch ein Buch darüber veröffentlicht?
Weil die Frage danach, wie es zu solchen Übergriffen kommen kann, nie wirklich geklärt wurde. Viele Verantwortliche reden einfach davon, dass man ein paar rechtliche Dinge klären müsste, mehr Prävention betreiben.
Und das reicht in Ihren Augen nicht?
Das Problem wird nicht an der Wurzel gepackt. Wenn es um sexuelle Übergriffe geht, müssen wir uns immer auch die Systemfrage stellen. Was genau begünstigt sexuelle Übergriffe? Dabei ist zuerst einmal wichtig, zu verstehen, dass sexualisierte Gewalt grundsätzlich überall passieren kann. Es gibt Menschen, die eine entsprechende Neigung haben. Beispielsweise eine pädosexuelle Neigung. Die Frage ist aber, auf welches Klima sie treffen. Ob Strukturen existieren, die ein Nährboden für sie sind.
Und die Kirche scheint prädestiniert dazu, wenn man sich die Schlagzeilen der letzten Jahre anschaut.
Vieles an Religionen und Kirche ist auch gut. Doch innerhalb des kirchlichen Kontextes wurde ungewöhnlich lange und sehr beharrlich akzeptiert, dass es sexualisierte Gewalt gab und noch immer gibt. Mehr noch: Die Kirchen bieten, meist ohne böse Absicht, regelrechte Steilpässe für grenzüberschreitendes Verhalten. Die Strukturen helfen übergriffigen Personen, sexualisierte Gewalt zu praktizieren.
Was meinen Sie damit?
In religiösen Kontexten herrschen oft klare Vorstellungen davon, wie Menschen sein müssen. Im Kontext von sexualisierter Gewalt gibt es spezifische Faktoren aus dem Glauben, die tätlichen Personen in die Hände spielen. Beispielsweise das Narrativ der Vergebung, das vielen Religionen gemein ist. Konkret sagten bestimmte Täter den Opfern, sie müssten verzeihen können, was grad passiert. Dass man einander doch vergebe, wenn man sündige. Auch erscheinen geistliche Personen aus ihrer Rolle heraus oft gottesnah – was sie tun, ist also in den Augen Vieler von Gott so gewollt. Oder zumindest nicht einfach hinterfragbar.
Haben Sie weitere Gemeinsamkeiten herausgeschält?
Eine starke Hierarchie. Und oft ist auch von «Brüdern und Schwestern» die Rede. Diese Idee, dass wir einander nahe sind, Teil einer Gemeinschaft. Das ist per se nicht schlimm. Jede Art von Gemeinschaft, auch Familien und Freundschaften, haben verschworene Elemente. Das bindet Menschen an die Gruppe. Ist man dafür aber nicht sensibilisiert und kippt das System Richtung Machtmissbrauch, entsteht eine toxische Kultur. Weil das auch heisst: Wir sind eine Familie, du hast uns viel zu verdanken, du darfst sie durch dein Aufbegehren nicht schwächen.
Das klingt ein bisschen wie bei den Skandalen um prominente, reiche Männer, die mit Sexparties und sexuellen Übergriffen in den Schlagzeilen landen.
Es ist der Sache auch nicht unähnlich, weil es ja um Machtmissbrauch geht, um patriarchale Strukturen und auch um eine Art Gruppendynamik, die solche Übergriffe systematisch und über lange Zeit hinweg ermöglichen. Insofern sind unsere Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung nicht nur für die Kirchen interessant, sondern für die ganze Gesellschaft. Ich bin auch nicht der Meinung, dass die Kirchen die Missbrauchsfälle nun allein thematisieren müssen.
Nicht?
Nein, denn das tun sie bereits mit einigem Erfolg. Weil es, leider, den Zuständigen vor allem darum geht, den Ruf ihrer Institution zu retten. Insbesondere, wenn die Institution schon geschwächt ist. Deshalb wird sich die Sache auch nicht klären lassen, wenn die Akteure aus ihren problematischen Strukturen heraus Besserung geloben.
Sie klingen sehr pessimistisch. Und auch ziemlich kirchenkritisch.
Und es kommt noch schlimmer: Neuste Forschungsergebnisse legen nahe, dass sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen in kirchlichen Heimen teils lange geplant war und systematisch erfolgte. Wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass innerhalb von gut gemeinten Einrichtungen ein paar Querschläger Schreckliches getan haben.
Wie war es stattdessen?
Es gibt Hinweise darauf, dass Kerntäter systematisch von Mitmenschen unterstützt wurden. Mitte Jahr erregte die jüngere Geschichte des Deutschen Bistums Speyer für grosse mediale Aufmerksamkeit. Ordensschwestern haben möglicherweise über Jahre hinweg Heimkinder mehreren Geistlichen zum sexuellen Missbrauch überlassen. Zeugenaussagen gelten als glaubwürdig. Doch es ist nichts schriftlich dokumentiert, also nicht beweisbar. Das macht die Sache so schwierig. Doch klar ist trotzdem: An einigen Orten hatte sexualisierte Gewalt System.
Auch in der Schweiz?
Ja, es gibt Anzeichen für systemische Gewalt, in unserem Buch wird das beispielsweise an einem kirchlichen Kinderheim in Luzern gezeigt. Natürlich ist es aktuell, im Jahr 2021, nicht mehr die gleiche Ausgangslage wie noch vor hundert Jahren. Die Kirche hat an Einfluss eingebüsst. Doch die wenigen, die sich beispielsweise in streng religiösen Kreisen bewegen, sei das in Form einer Freikirche oder streng katholischen Milieus, sind umso gefährdeter.
Warum das?
Weil jetzt umso mehr die Geschichte gilt: Wir gegen den Rest der Welt. Es findet in solchen Milieus eine Spaltung statt. Eine Art Parallelwelt wird gebildet. Man will die Menschen ja an die Institution binden. Notfalls mit Angst und Gewalt.
Was ist nun zu tun?
Wir dürfen diese Debatte nicht den Kirchen allein überlassen. Und wir dürfen das Thema der sexualisierten Gewalt in der Kirche als Chance begreifen, uns auch Gedanken über Grenzüberschreitungen in anderen Kontexten zu machen. Gewalt passiert auch in der Politik, im Sport, in der Wirtschaft. Wir leben in einer Kultur, die viele Dinge, die aus der Kirche kommen, säkularisiert hat, gute und schlechte. Patriarchale Strukturen gehören dazu, starke Hierarchien auch.
Welche Rolle spielt die Schweiz?
Gerade in der Schweiz können wir nun vielleicht leichter Aufklärungsarbeit leisten und einen Schritt vorangehen als in anderen Ländern. Weil die konfessionellen Grenzen hier durchlässiger sind, und wir deshalb eher lernen, uns durch die Augen eines Fremden oder Andersgläubigen zu sehen. Wir könnten viel bewegen. Die Themen, die wir genannt haben, sind nicht auf die Kirchen beschränkt. Und der Machtmissbrauch erst recht nicht. Die Kirchen können ein Lernort für uns alle sein.
Manchmal habe ich echt das Gefühl, dass die kirchliche Lehre nur dazu erfunden wurde, um sich hemmungslos der Sünde hinzugeben.