Die Schweiz hat viel Zeit. Also Freizeit. Unentwegt kann sie an irgendwelchen Geräten von Bergen springen oder über Seen gleiten. Oder Velo, Auto, Bahn und Schiff fahren. Gern ist die Schweiz in der Badi. Das Wasser ist blau, die Wiesen sind grün, schlechtes Wetter gibt es nicht. Die Schweiz ist immer liebenswürdig. Zu ihren Schwangeren und blutjungen Schwingerinnen. Ihre Söhne in der Rekrutenschule sind ordentlich und sanftmütig.
Grundsätzlich ist die Schweiz besonnen, philosophisch und sehr, sehr anständig. Sie liebt ihre Tiere. Ein Schweizer sagt, Hunde seien das Beste, was dem Menschen passieren könne, der beste Freund, da ehrlich und nicht fake. Sie würden immer ihr bestes geben und nur einem ausgeglichenen Rudelführer folgen, «nicht wie die Menschen, die jedem Vollpfosten nachlaufen».
Ein Bub sagt, für ihn sei das Schönste, dass es in der Schweiz so viele Brunnen gebe. Überhaupt redet der Schweizer gern und viel. Die Schweizerin dagegen macht. Holt Kinder auf die Welt und Brot aus dem Ofen.
Und an welchem Tag des Jahres 2019 befinden wir uns? Am 21. Juni! Also nicht ganz genau, aber das Datum ist gut, denn erstens ist der 21. Juni der längste Tag eines Jahres, und zudem war der 21. Juni 2019 einer von unzähligen Fridays for Future und eine Woche nach dem Frauenstreik. Es passt also, dass sich in einem Dokfilm, der mit der Zeitangabe «21. Juni 2019, 00.00 Uhr» beginnt, auch etliche Demobilder befinden.
Denn «Switzerlanders» von Regisseur Michael Steiner ist ein Dokfilm. Theoretisch jedenfalls. Praktisch ist er eine Art bewegtes Riesenselfie geworden. Man nennt dies korrekterweise wohl Image-Film. Ein Film über ein wunderschönes Land mit wunderfreundlichen Menschen, wo Christen, Juden und Moslems friedlich koexistieren und in ihren Kirchen, Synagogen und Moscheen weisen alten Männern lauschen und finden, man könne schon noch voneinander lernen, von den Schweizern die Pünktlichkeit, von den andern die Lockerheit.
Entstanden ist «Switzerlanders» so: Steiner machte gemeinsam mit «20 Minuten» einen landesweiten Aufruf. Die Menschen sollten ihm Clips aus ihrem Alltag schicken. Steiner schwebte vor, Geschichten «vo Läbe bis Tod» zu erzählen. Interessante Geschichten. Und daraus sollte ein interessantes filmisches Mosaik geschnitten werden. Das Panoptikum einer aufgewühlten Zeit. Und angeblich das grösste Filmprojekt, das die Schweiz jemals gesehen haben sollte. Damals ahnte niemand, dass das Frühjahr 2020 um ein Vielfaches aufwühlender würde.
1400 Stunden Material trafen bei Steiner ein, 75 Minuten hat er davon verwendet. Von heute aus gesehen sind das 75 Minuten reine Nostalgie. Und 75 Minuten Werbespot für das Ferienland Schweiz im Coronasommer 2020.
Das mit dem «Läbe» hat geklappt, wir besuchen eine Geburtsstation und eine Herzklinik, aber den Tod muss man sich vorstellen, der bleibt aussen vor. Was verständlich ist, wenn man die Leute bittet, etwas einzuschicken, was sie gerne zeigen möchten. Da kommen dann eben viele Naturschönheiten Tiere und – Autos.
Einer zeigt verrückt vor Glück den 100'000. Kilometer seines Elektroautos. Ein anderer macht einem Maserati einen Heiratsantrag: «Ich ha no nie sone geili Sau gseh, mit somene Arsch und söttige Kurve!» Auto gleich Sau gleich Frau. Dazu passt auch der Typ (hängen wirklich nur Männer an Autos?), der sich ein Playboy-Loft eingerichtet hat, und sagt, er hasse das rot-grüne «Pack» von Zürich, das ihm seine grossen amerikanischen Schlitten madig und das Leben schwer machen wolle.
Zum Glück kommt gleich danach ein Gletscherschützer mit dem majestätischen Rhonegletscher. Selbst mit starkem Klimaschutz, sagt er, liesse sich höchstens ein Drittel der Schweizer Gletscher retten. Da will man ganz schnell die wöchentlichen Klimademos zurück, subito!
Erfunden hat das Prinzip von einem Land, das sich einen Tag lang filmisch selbst darstellt, Ridley Scott. Dessen Produktionsfirma steht denn auch mit hinter «Switzerlanders». Italien, Indien, Japan, Grossbritannien haben sich so schon verwirklicht, jetzt also die total sympathische, harmonische und herzig rückwärtsgewandte Schweiz. Und man fragt sich: Wo ist die andere? Die Kulturschweiz (abgesehen von einem, der sich mit seinem Auftritt keinen Gefallen tut)? Die Wissenschaftsschweiz? Las die etwa ... hüstel ... den Aufruf in «20 Minuten» nicht?
Übrigens wohnt die Schweiz am liebsten in Häusern. Jedenfalls gehen am frühen Morgen sehr viele Menschen eine Treppe hinunter, bevor sie Frühstück machen. Und nach Einbruch der Dunkelheit frönen sie einem Fetisch für Lichterketten. Das ist friedlich. Und schön. Wie die Natur.
«Switzerlanders» ist ab 21. Mai auf folgenden Plattformen erhältlich: Sky, UPC, iTunes, myfilm.ch, kino-on-demand.ch und Teleclub. Auch die DVD erscheint dann.