Zu Beginn klingt alles wie eine fabelhafte Heldengeschichte: Auf der Facebook-Seite der SBB berichtet eine Frau von einem Kondukteur, der sich herzergreifend nett um eine blinde Frau gekümmert haben soll. Nicht nur, dass er der Dame angeboten haben soll, ihr beim Aussteigen zu helfen – nein, er soll ihr auch gleich noch Kaffee und Gipfeli aus dem Speisewagen serviert haben.
So weit, so erfreulich. Innerhalb kürzester Zeit macht die Geschichte auf Facebook die Runde, sie kassiert mehr als 5000 Likes und wird mehrere Hundert Mal geteilt. Und auch die Kommentar-Funktion wird rege genutzt. Gleich als Erstes meldet sich die SBB selbst zu Wort: Im Namen des Unternehmens bedankt sich «Nick» für das positive Feedback, ausserdem erkundigt er sich nach genaueren Details, um das Lob an den betroffenen Kondukteur weiterleiten zu können. Diese bekommt er umgehend geliefert.
Zahlreiche andere Facebook-Nutzer nehmen die Geschichte zum Anlass, um sich über ähnlich erfreuliche Erlebnisse mit der SBB auszutauschen. Alles in allem kann man sagen: Die gepostete Geschichte über einen besonders höflichen Kondukteur war für das Schweizer Bahnunternehmen mehr Wert als so manche Werbekampagne.
Diese Art von «Wohlfühl-Geschichten», die sich, fast wie von selbst, rasend schnell im Internet verbreiten, gibt es immer wieder. Doch die Sache hat einen Haken: Denn bei dem Eintrag handelt es sich um einen kompletten Fake.
Schaut man sich das Profil von «Irina Müller», die die Geschichte gepostet hat, etwas genauer an, stösst man nämlich auf eine Vielzahl von Ungereimtheiten: Die Person hat lediglich 24 Facebook-Freunde – ein Phänomen, das man auf dem sozialen Netzwerk eher selten sieht.
Das Titelbild von Irina Müller ist ein Stockfoto – sprich, es stammt von einer Bildagentur – ansonsten ist die Timeline des Facebook-Profils so gut wie leer. Ihr Wohnort ist laut Facebook Luzern, was verwunderlich ist, weil sie gemäss ihrer Geschichte früh am Morgen von Fribourg nach Zürich unterwegs war. Auf unsere Anfrage reagiert Irina Müller nicht.
Doch wir können einen ihrer 24 «Freunde» erreichen. Dieser gibt zu, noch ein paar «Leichen im Keller» zu haben – sprich Personen in seiner Facebook-Freundesliste, die er gar nicht wirklich kennt. Wir haken nach: «Hast du sie denn ‹im echten Leben› mal gesehen? Es scheint nämlich so, als handle es sich um ein Fake-Profil.» Darauf er: «Nee, noch nie gesehen. Ich glaube eben auch, dass es das sein könnte.»
Gepostet wird die Geschichte am Donnerstagabend um 18.20 Uhr. Bis Freitagabend zieht sie grosse Kreise – dann verschwindet sie plötzlich von der Facebook-Seite. Das ist auch der SBB aufgefallen: «Warum das Posting auf einmal wieder gelöscht wurde, wissen wir auch nicht. Wir haben uns aber auch darüber gewundert», so Mediensprecherin Lea Meyer.
Einen Fake kann Meyer nicht ausschliessen: «Es posten schon ab und zu Leute etwas unter irgendeinem Pseudonym, das fällt uns schon auf. In diesem Fall war die Geschichte aber mit so vielen Details beschrieben, dass wir glauben – und hoffen, dass sie echt ist.»
Update: Inzwischen sind die SBB der Sache nachgegangen. Laut Mediensprecherin Lea Meyer konnte der betroffene Kondukteur ausfindig gemacht werden – das erfreuliche Ereignis habe also durchaus stattgefunden. Der Mitarbeiter habe sich sehr über das positive Feedback gefreut. Woher das Facebook-Posting gekommen war, wisse man aber nach wie vor nicht.