Schweiz
Schule - Bildung

Prüfungs-Horror fürs Gymnasium: Eltern ziehen den Aargau Zürich vor

Jede Zweite fällt bei der Gymiprüfung durch: «Bildungsaufsteiger haben es heute schwerer»

Diese Woche bestreiten Tausende Schülerinnen und Schüler die Aufnahmeprüfung für eine Kantonsschule. Besonders gross ist das Gerangel im Kanton Zürich. Anderswo, etwa im Aargau, ist es anders – einige wechseln darum dorthin.
06.03.2023, 12:04
Christoph Bernet / ch media
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Die Zugfahrt von der Grossstadt Zürich in die Aargauer Kleinstadt Baden dauert bloss 15 Minuten, aber es ist eine Reise in eine andere Bildungswelt. Im Aargau gelangt man ohne Prüfung ans Gymnasium, wenn zuvor die dreijährige Bezirksschule absolviert worden ist. Diese ist die leistungsstärkste der drei Schultypen der Aargauer Oberstufe.

Prüfung an einer Kantonsschule im Kanton Glarus (Archivbild, 2018).
Prüfung an einer Kantonsschule im Kanton Glarus (Archivbild, 2018).Bild: Gaetan Bally/Keystone

Die fünfzehnminütige Zugfahrt treten einige Zürcher Kinder tagtäglich an. Es sind Scheidungskinder, deren Eltern dies- und jenseits der Kantonsgrenze wohnen. Sie haben die Wahl und ziehen die aargauische der zürcherischen Bildungswelt vor.

Neben dem Aargau erfolgt der Übertritt ans Gymnasium in 16 weiteren Kantonen grundsätzlich prüfungsfrei. Hier entscheidet der Durchschnitt der Erfahrungsnoten, eine Empfehlung der Lehrperson oder eine Kombination dieser Elemente über die schulische Laufbahn.

In den beiden Appenzell, Glarus, Graubünden, Schaffhausen, Schwyz, St. Gallen, Thurgau und Zürich hingegen muss im Normalfall eine Prüfung bestehen, wer ans Gymnasium will. In all diesen Kantonen ist die Prüfungsphase am Anlaufen oder läuft bereits.

4000 Franken für Vorbereitungskurse

Einen besonderen Stellenwert nimmt die Gymiprüfung im Kanton Zürich ein. Etwa 8500 Schülerinnen und Schüler dürften heute Montag zur Prüfung antreten. Nicht einmal jede und jeder zweite wird sie bestehen, wenn der langjährige Trend anhält. Im Kanton Zürich hat mehr als die Hälfte der Bevölkerung über 25 Jahre einen Hochschulabschluss, darunter viele hervorragend ausgebildete Expats.

Für viele von ihnen, ebenso wie für zahlreiche Schweizer Akademikereltern, ist die gymnasiale Matur alternativlos. Dass ihr Kind den Weg über die Sekundarschule und eine anschliessende Berufslehre einschlägt, ist undenkbar.

Entsprechend gross ist der Druck für den Nachwuchs und die Bereitschaft der Eltern, tief in die eigene Tasche zu greifen, damit dieser die Prüfung besteht. In Zürich ist ein florierendes Business mit privaten Vorbereitungskursen entstanden, welche die Erfolgschance an der Prüfung erhöhen sollen. Diese Kurse sind zeitintensiv und teuer. Ein 22-wöchiger Kurs mit einem halben Tag Unterricht pro Woche kostet bei einem renommierten Anbieter 3960 Franken.

Das Zürcher Gymi-Gerangel ist für manche Familien zu viel. Diese Redaktion weiss von mehreren Zürcher Akademikerfamilien, bei denen es gar zu einem Wohnortswechsel beigetragen hat. Die Aussicht, die Kinder in einem Kanton ohne Aufnahmeprüfung oder mit geringerem gesellschaftlichen Erwartungsdruck auf eine Gymi-Karriere aufwachsen zu sehen, war einer von mehreren Faktor für den Umzug.

«Von solchen Kantonswechseln wegen der Gymiprüfung hört man immer wieder, auch wenn mir persönlich kein solcher Fall bekannt ist», sagt Lucius Hartmann. Es dürfe sich lediglich um Einzelfälle und nicht um ein statistisch nachweisbares Phänomen handeln, so der Präsident des Vereins der Schweizerischen Gymnasiallehrerinnen und Gymnasiallehrer (VSG), der an der Kantonsschule Zürcher Oberland in Wetzikon unterrichtet.

Lucius Hartmann, Präsident des Vereins der Schweizerischen Gymnasiallehrerinnen und Gymnasiallehrer (VSG).
Lucius Hartmann, Präsident des Vereins der Schweizerischen Gymnasiallehrerinnen und Gymnasiallehrer (VSG).Bild: zvg

«Es gibt kein perfektes Verfahren zum Übertritt ins Gymnasium, sonst hätten das alle Kantone übernommen», sagt Lucius Hartmann. Dass sich diese Verfahren je nach Kanton unterschieden, sei Folge des im Bildungsbereich stark ausgeprägten Föderalismus. Sowohl die abgebende Volksschule als auch die aufnehmende Gymnasialstufe seien kantonal sehr unterschiedlich ausgestaltet. Daraus ergeben sich verschiedene Übertrittsverfahren.

Beim Kanton Zürich verteidigt man die eigene Praxis. «Das Zürcher Aufnahmeverfahren weist eine hohe Validität und Objektivität auf», schreibt das Zürcher Mittelschulamt. Es richte sich an leistungsstarke Schulkinder. Ziel sei es, die richtigen Schülerinnen und Schüler an die richtigen Schulen übertreten lassen.

Das Amt verweist auf eine Studie, gemäss der eine Kombination aus Erfahrungsnoten und Aufnahmeprüfung die beste Vorhersage für ein Bestehen der Probezeit ermögliche. Ausserdem liege der Anteil der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten, die das benötigte Kompetenzniveau in Mathematik und Lesen nicht erreichten, laut Bildungsbericht 2018 bei Kantonen ohne Aufnahmeprüfung deutlich höher als bei solchen mit einer Prüfung.

«Bildungsaufsteiger haben es heute schwerer»

Elsbeth Stern, Professorin für Lehr- und Lernforschung an der ETH Zürich, sieht das kritischer. Sie schätzt, dass insgesamt 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler auf dem Gymnasium eigentlich nicht dorthin gehören, weil sie nicht ausreichend intelligent sind. Im Kanton Zürich und anderswo landeten Kinder aus Akademikerfamilien im Gymnasium, weil deren Eltern alles dafür unternehmen würden. Das gehe auf Kosten von Kindern, die die Voraussetzungen eigentlich mitbringen würden, aber deren Eltern nicht den Hintergrund hätten, sie zu unterstützen.

Elsbeth Stern, ordentliche Professorin für empirische Lehr-​ und Lernforschung und Leiterin des Instituts für Verhaltenswissenschaften am Departement für Geistes-​, Sozial-​ und Staatswissenschaften d ...
ETH-Professorin Elsbeth Stern.Bild: zvg

Solche «Bildungsaufsteiger» hätten es heute schwieriger als in früheren Jahrzehnten, sagt Stern: «Den Lehrpersonen in der Primarschule fehlen die Zeit und teilweise auch die Kompetenz, ihr Potenzial zu erkennen und so zu fördern, damit sie den Sprung ans Gymnasium schaffen.»

Zur Misere tragen in Sterns Augen auch die teuren Vorbereitungskurse bei. Wer diese besucht habe, sei besser mit der spezifischen Art der Aufgabenstellung an der Gymiprüfung vertraut. Wer ohne diese Vorbereitung auskommen müsse, der sei im Nachteil, egal ob er oder sie vielleicht die besseren Grundvoraussetzungen fürs Gymnasium mitbringe: «Ich bin für die Abschaffung der kommerziellen Kurse.» Stattdessen sollten allen Kindern und Jugendlichen mit Eignung fürs Gymnasium kostenlose Vorbereitungskurse angeboten werden.

Dies empfiehlt die Zürcher Bildungsdirektion allen Primar- und Sekundarschulen im Kanton. Gemäss Mittelschulamt setze ein Grossteil der Gemeinden diese Empfehlung um. Eine Pflicht für dieses Angebot, wie es Elsbeth Stern fordert, hat der Kantonsrat vor zehn Jahren abgelehnt.

Vielleicht ein Mitgrund dafür, weshalb die eingangs erwähnten Scheidungskinder täglich 15 Minuten nach Baden an die «Kanti» pendeln. Einen Nachteil hat der Schulbesuch im Aargau jedoch: Im Schnitt dauert es dort ein Jahr länger bis zur Matura als in Zürich.

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198 Kommentare
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Sam1984
06.03.2023 12:14registriert Dezember 2014
"Wer ohne diese Vorbereitung auskommen müsse, der sei im Nachteil, egal ob er oder sie vielleicht die besseren Grundvoraussetzungen fürs Gymnasium mitbringe"

Wer die Gymiprüfung nicht ohne Zusatzkurse schafft bringt die Grundvoraussetzungen für das Gymi nicht mit ...
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insert_brain_here
06.03.2023 12:33registriert Oktober 2019
Ich kann’s ja schon verstehen. Wann immer heute das Thema zur Sprache kommt dass sich mit einem Handwerkerlohn kaum mehr eine Familie ernähren lässt kommen sofort die Sprüche “Selber Schuld!”, “In der Schule wohl lieber gekifft als gelernt!” oder “Hättest halt wie ich BWL studieren sollen, für mich reichts locker!”, verständlich dass die Eltern ihre Kinder wenn möglich ihren Kindern dies ersparen wollen. Nur heizen sie damit das Problem immer weiter an.
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Triple
06.03.2023 12:29registriert Juli 2015
Vielleicht ist ja auch einfach jeder oder jede zweite nicht für die Kanti geeignet 🤔
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Eine Stunde und 20 Minuten länger – so war der Stau am Gründonnerstag

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