«Dass wir hier in der Schweiz jemals einen solchen Lehrermangel haben würden, damit hätte ich nicht gerechnet», sagt Mark Plüss. 1984 begann er als Lehrer zu arbeiten. Damals herrschte ein Überschuss an Primarschullehrern, eine Anstellung zu bekommen sei nicht einfach gewesen. «Manche Frau bekam damals zu hören, sie sollte nicht als Lehrerin arbeiten und dafür zu Hause auf die Kinder schauen, es gebe ohnehin zu wenig Stellen», sagt er.
Heute ist Plüss 64 Jahre alt und pensioniert. Es gibt viel mehr Lehrerinnen als Lehrer und insgesamt viel zu wenig. Wie aktuell das Beispiel des Kantons Bern zeigt: Mitte März sind noch 359 unbefristete Stellen ausgeschrieben für das neue Schuljahr, das bereits im August beginnt.
Obwohl Plüss nicht müsste, betreut er derzeit im Einzelunterricht einen Schüler, dessen Verhalten für eine Regelklasse zu auffällig war. Plüss unterrichtet ihn drei Stunden pro Tag und sagt klar, dass dieser Zustand für den Buben keine dauerhafte Lösung sei. Er müsse nun schrittweise und begleitet in eine andere Klasse integriert werden.
Dass es vor rund 40 Jahren noch einen Überschuss an Lehrern gab, kann Joelle* fast nicht glauben. Sie ist 31 Jahre alt und arbeitet seit fünf Jahren als Lehrerin. Aber wahrscheinlich nicht mehr lange. Sie findet den Job nicht erfüllend – obwohl sie eigentlich aus Überzeugung und Leidenschaft Lehrerin geworden ist. Während eines Volontariats in Asien hatte sie gemerkt, dass ihr das Unterrichten Freude macht, es eine sinnstiftende Arbeit ist. Deshalb besuchte sie kurz darauf die Pädagogische Hochschule (PH).
Wie viele andere junge Lehrpersonen stösst auch sie oft an ihre Grenzen, der Job lauge aus. Als Lehrerin sei man nicht «nur» Lehrerin, sondern auch Therapeutin, Psychologin, medizinische Praxisassistentin, Büro-Fachkraft und Projektentwicklerin. Und Übersetzerin: Der Ausländeranteil in der Gemeinde, in der Joelle arbeitet, liegt bei fast 50 Prozent.
Dass diese Kinder aus bildungsfernen Schichten stammen, erschwere die Arbeit weiter. Sie fügt an: «Wenn ich am Zürichberg arbeiten würde, hätte ich aber mit anderen Problemen zu kämpfen. Eine schwierige Mutter ist genauso schlimm wie ein anstrengendes Kind.»
Plüss kennt diese Herausforderungen ebenfalls. Er habe die Menschen mit Migrationshintergrund oft als sehr kooperativ und dankbar erlebt. Doch Plüss sagt, dass er davon profitierte, im Mehrklassen-System gearbeitet zu haben. Das heisst, er unterrichtete in einer Klasse Erst- bis Sechstklässler. Die Kinder hätten oft füreinander Verantwortung übernommen und damit die Arbeit der Lehrer unterstützt.
Besonders herausfordernd seien die Kinder, welche den Unterricht konstant stören, aber aufgrund des integrativen Systems mitgetragen werden müssen, findet Joelle. Sie sagt:
Die Bandbreite innerhalb einer Klasse von 20 Kindern, welche keine speziellen Bedürfnisse haben, sei schon enorm. «Wenn man noch jemanden mittragen muss, der verhaltensauffällig ist, dann stösst man schnell an seine Grenzen», sagt sie.
Einmal habe sie einen Schüler in der Klasse gehabt, der keine Impulskontrolle hatte. «Es war schier unmöglich, auch nur eine Minute etwas zu erklären, ohne dass er den Unterricht störte.» Der Schüler wurde daraufhin in eine Sonderschule verlegt. Doch das sei nicht immer der Fall:
Plüss ist mit dieser Problematik ebenfalls vertraut. «Zu uns sind häufig Kinder gekommen, die von anderen Schulen nicht mehr getragen werden konnten. Und bei uns funktionierte es – fast immer», sagt er. Auch hier sagt er: Eine Klasse, in der Kinder mit unterschiedlichem Alter sind, sei eine grosse Ressource. «Man sollte darüber nachdenken, ob Jahrgangsklassen für alle Kinder das Richtige sind – vielleicht könnte man dann auch am integrativen System festhalten.»
Warum er ein Verfechter des integrativen Systems ist, erzählt er in einer Anekdote:
Er fügt an: «Wenn in einer Schule alle am gleichen Strick ziehen, kann Integration gelingen. Und jeder gelungene Fall stärkt das System.» Doch es gäbe auch Schulen, die diese Ansicht nicht vertreten. Dort sei der Tenor, dass man die Lehrpersonen vor Kindern schützen sollte, welche eine Mehrbelastung seien. Plüss kann das nachvollziehen, stellt aber eine Grundsatzfrage:
Er begrüsst es, dass die Lehrerinnen und Lehrer nun oft zu zweit unterrichten und zudem noch von Heilpädagoginnen oder Klassenassistenten unterstützt werden. Joelle unterrichtet nur zwei Tage mit einer anderen Lehrperson. Doch wenn es wirklich ein schwieriges Kind gebe, sei man als Lehrerin nur am Betteln, damit man mehr Unterstützung erhalte. Die Heilpädagogen würden nur punktuell Stunden übernehmen. Die restliche Zeit sei man alleine mit den Kindern und überfordert mit jenen, die den Unterricht stören und verhindern, dass die anderen etwas lernten: «Deshalb ist es utopisch zu denken, dass alle Kinder die Regelklasse besuchen sollten. Es kann nicht aufgrund eines Inklusionsgedankens alles andere stehen bleiben.»
Dass nun auch Leute ohne Diplom Kinder unterrichten, finden beide gut. Bei den Lösungsansätzen haben die beiden ebenfalls die gleichen Ansichten: Die PH sollte attraktiver und flexibler werden – etwa für Menschen, die zu Hause schon eine Familie haben, die sie ernähren müssen. Man müsse überdenken, ob es an der PH eine so hohe Anzahl an Präsenzstunden brauche.
Zudem müsse man die Studierenden früher in die Praxis schicken. Beide sind sich einig: Im Schulzimmer mit den Kindern lernen auch die Lehrpersonen viel dazu. So könne man auch die aussieben, die dann merken, dass der Beruf ihnen nicht gefällt – die Aussteigerquote bei den Lehrerinnen und Lehrern ist hoch.
Plüss sagt: «Wir haben in den vergangenen Jahren herausgefunden, dass nicht alle Kinder gleich sind – und so gehen wir heute auf ihre Bedürfnisse ein.» Aber auch Lehrer seien heterogen. Deswegen könnte man sie auch unterschiedlich fördern, beispielsweise mit verschieden grossen Klassen, angepassten Klassensystemen wie etwa dem altersdurchmischten Lernen oder differenzierter Entlöhnung.
Könnte Plüss nochmals wählen, würde er sich wieder dazu entscheiden, Lehrer zu werden. Er schaut hoffnungsvoll in die Zukunft: «Es wird eine Herausforderung, es braucht Ressourcen und es wird nicht überall gleich gut funktionieren, viele Schulen werden es schaffen.»
Was Joelle in Zukunft machen wird, weiss sie noch nicht. Der Leidensdruck sei momentan nicht so hoch wie vorher, aber das liege wohl auch daran, dass sie ihre eigenen Ansprüche reduziert habe. So optimistisch wie Plüss ist sie deshalb nicht: «Es kommt darauf an, was die Politik in den nächsten fünf bis zehn Jahren macht. Die Lehrerschaft muss endlich gehört werden.»
*Name von der Redaktion geändert.
Ausserdem ist die Inklusion von Kindern mit Behinderung und Lernschwäche sowie die Vermittlung der absoluten Gender-Gleichstellung in der Regelschule zwar ein romantischer Gedanke. In Tat und Wahrheit übersteigt das «Sonderpädagogik-Konzept» aber die Kapazität vieler Lehrkräfte.