Das Coronavirus infiziert die damals 14-jährige Melissa Früh im November 2021. Die Infektion löst die üblichen Covid-Symptome aus, einige lassen aber auch nach der Quarantäne nicht nach.
Drei Jahre ist das her, und Melissa leidet immer noch an den Folgen der Erkrankung. Starke Erschöpfung, fehlende Energie – das Treppensteigen ist beispielsweise schwierig – Kopfschmerzen, permanenter Schwindel, ein sehr hoher Schlafbedarf von 12 bis 16 Stunden sowie Haarausfall sind Melissas Symptome. In ihrer Stube erzählt sie eine ganze Stunde beinahe ohne Unterbrechung von ihrem Leidensweg.
Weil es nicht besser wird, schickt die Hausärztin das Mädchen ins Spital nach Münsterlingen, dort wird im Januar 2022 die Diagnose eines postviralen Erschöpfungssyndroms gestellt. «Eigentlich hat man von Long Covid gesprochen, aber der Arzt wollte meine Erkrankung nicht als solche benennen», sagt Melissa.
Das Thurgauer Mädchen erholt sich weiterhin nicht, ist erschöpft, hat keine Energie, um aufzustehen, an Schule ist nicht zu denken. Erst ist sie im Spital, danach in einer Tagesklinik. «Mir fehlte und fehlt die Energie, obwohl ich ADHS habe», sagt sie.
Melissa redet sich in Rage, trotz ihrer Long-Covid-Probleme habe sie damals ganzzeitig in die Schule müssen. «Ich stand kurz vor dem Zusammenbruch.» Sie bezeichnet die Therapeutin als schlecht und sagt, diese habe gesagt, Long Covid bei Kindern gebe es nicht.
«Sie war damals vierzehn, also in der Zeit der Abnabelung von der Familie. Und sie war eingesperrt in den eigenen vier Wänden», sagt die Mutter. Da die Tochter nach der Corona-Erkrankung starke Depressionen hat, habe in der Folge der Therapeut alles auf die Depression geschoben, nicht auf Long Covid. «Du musst wieder in die Schule», habe es geheissen. Sie wechselt die Tagesklinik, muss dort aber im Januar 2023 austreten.
An einem runden Tisch wird mit der Familie und Experten die Situation besprochen. «Eine Teilnehmerin sagte, wenn ich die Schule nicht besuche, werde eine Gefahrenmeldung bei der Kesb gemacht. Dann holt dich die Polizei zu Hause ab. Ein Riesendruck», sagt Melissa. Eine Woche geht sie zu 100 Prozent in die Schule, nachher bleibt sie krank zu Hause.
Sie erleidet einen Zusammenbruch und hat erstmals Selbstmordgedanken. Die Odyssee geht weiter und führt zur Psychiatrie in Littenheid. Dort fühlt sie sich psychisch besser. Sie lobt die Therapeuten. Trotzdem klappt der Versuch, sie wieder in die Regelklasse einzugliedern, wieder nicht. Ihr fehlt die Energie.
Inzwischen geht Melissas Schulzeit dem Ende entgegen. Melissa spricht von einer grossen Befreiung. Doch die Berufswahl in einer Lernwerkstatt muss sie wegen eines Crashs abbrechen – seit zwei Wochen ist sie nur noch zu Hause.
Verschlimmert hat sich die gesundheitliche Situation von Melissa, als sie und die ganze Familie im letzten Herbst wieder mit Corona infiziert werden. Das gilt auch für die jüngere Schwester, die ebenfalls an Long Covid leidet.
Auch sie nimmt schon lange nicht mehr am normalen Schulunterricht teil. Sie geht zweimal pro Woche für zwanzig Minuten in die Schule, zweimal kommt eine Lehrerin vorbei. Das ist möglich, weil sie im Gegensatz zur grösseren Schwester eine offizielle Long-Covid-Diagnose erhalten hat und weil der Kanton Thurgau der einzige Kanton ist, der bei Long-Covid- Kindern einen Anspruch auf bezahlten Einzelunterricht anbietet.
Zwei Kinder mit Long Covid, die Not ist gross in der Familie, die sich deshalb mit rund 300 weiteren betroffenen Familien in der Gruppe «Long Covid Kids Schweiz» austauscht. Diese Organisation hat nun zusammen mit «#ProtectThe Kids» eine Medienmitteilung publiziert, die Betroffenen mehr Unterstützung bringen soll. Insbesondere in den Schulen.
«Generell dauert es viel zu lange, bis Kinder und Jugendliche, die aufgrund von Long Covid den Präsenzunterricht kaum noch oder gar nicht mehr besuchen können, zu Hause etwas schulische Unterstützung erhalten», sagt Präsidentin Claudia Schumm, die selbst einen Sohn hat, der an Long Covid gelitten hat, jetzt aber wieder gesund ist.
Um die Schulprobleme zu lösen, hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) ein Informationsblatt erarbeitet, das sich an Schulleitungen und Lehrpersonen richtet. Das Infoblatt biete hilfreiche, konkrete Handlungsansätze, sagt Schumm. Gut wäre, wenn das Informationsblatt Anfang Schuljahr durch die Erziehungsdirektoren (EDK) verteilt worden wäre, nun komme es vermutlich erst an Weihnachten in die Schulen. Es hätte geeilt, «weil die meisten Schulen über Long Covid nicht Bescheid wissen und die Langzeitfolgen von Virusinfektionen massiv unterschätzen.»
Long Covid werde zu wenig anerkannt und ernst genommen, sagt Mutter Gabriela Früh. Die betroffenen Familien seien oft über Monate und Jahre auf sich allein gestellt, ergänzt Schumm. Eltern müssten ihre Arbeitspensen reduzieren oder den Job aufgeben.
Die medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Long Covid und Myalgischer Enzephalomyelitis beziehungsweise Chronischem Fatigue-Syndrom – der schwersten Form von Long Covid – sei völlig ungenügend. Zudem würden diese Patienten viel zu schnell in die Psychiatrie verwiesen.
Ihr sei aber bewusst, dass Long Covid eine neue Krankheit sei und die Mediziner und Therapeuten noch lernen müssten, sagt Früh. Tatsächlich ist die Diagnose von Long Covid äusserst schwierig.
«Auch bei Kindern steht in der Regel die chronische Müdigkeit und Erschöpfung im Vordergrund», sagen Anita Niederer-Loher und Christian Kahlert vom Ostschweizer Kinderspital, welche dort eine Sprechstunde für Kinder mit Long Covid anbieten.
Die Erschöpfung beeinträchtigt die Aktivitäten im Alltag sowie die schulischen Leistungen. Daneben kommen auch bei Kindern und Jugendlichen viele andere, unspezifische Symptome wie zum Beispiel Kopfschmerzen, Schwindel und Muskelschmerzen vor, erklären die Kinderärzte.
Und es gibt noch viel mehr unterschiedliche und oft unspezifische Symptome. Deshalb sei die Diagnosestellung auch bei Kindern komplex. Zudem fehlten oft Laborwerte oder Untersuchungen. «Long Covid ist eine Ausschlussdiagnose, das heisst, andere mögliche Ursachen der Beschwerden müssen in jedem Fall ausgeschlossen werden», sagt Niederer-Loher. Oft brauche es zusätzliche Spezialuntersuchungen zum Beispiel im Labor, in Kardiologie, Pneumologie und Neurologie.
Es gebe verschiedene Hypothesen dazu, dass Long Covid auch auf körperliche Mechanismen zurückzuführen sei, sagt Kahlert. «Es ist aber auch bei Kindern so, dass es sich um ein multifaktorielles Geschehen handelt und noch keine wissenschaftlich fundiert geklärte Ursache identifiziert werden konnte.»
Dies obwohl Forscher an der Universität Zürich letzthin ein Muster in den Blutproteinen identifiziert haben, um Long Covid besser zu diagnostizieren und vielleicht in Zukunft auch gezielter zu behandeln.
Weil es keine einheitliche Definition dieser Erkrankung gebe, sei es schwierig, verlässliche Zahlen zur Häufigkeit zu erheben.
Zwischenzeitlich haben praktisch alle Kinder Covid mindestens einmal durchgemacht, es sind insgesamt wenige Kinder von Long Covid betroffen. Viele der Betroffenen sind während der ersten Phase der Pandemie erkrankt. Allerdings schreibt Long Covid Kids, dass es auch Fälle nach der dritten Infektion gebe. Das BAG hat inzwischen Behandlungsempfehlungen zur Post-Covid-19-Erkrankung publiziert.
Zum Vorwurf, Kinder würden zu schnell in die Psychiatrie-Ecke gedrängt, sagen sie, der psychologische Aspekt sei bei Kindern mit Long Covid wichtig. Dieser dürfe aber nicht der einzige Ansatz sein.
Die psychologische Begleitung sei ein sehr wichtiger Faktor. Kinder- und Hausärzte hätten verschiedene Möglichkeiten, sich zur Thematik weiterzubilden. Sie sollten somit in der Lage sein, die Symptomatik zu erkennen und die betroffenen Kinder und Jugendlichen Spezialsprechstunden zuzuweisen.
Melissa will nun ganz zur Ruhe kommen. Über die IV sind wegen ihrer Depressionen, nicht wegen Long Covid, sogenannte Integrationsmassnahmen möglich.
Vorerst will sie aber nur eine Aktivität pro Tag ausüben, zum Beispiel eine Physiotherapie, Häkeln oder Line-Dance. Letzteres macht sie seit 2015, und der Tanz halte sie am Leben, sagt sie. «Wir hoffen, dass es besser wird, aber wir sind nicht sicher, ob das funktioniert», sagt die Mutter. Vorerst wollen sich Mutter und Tochter an kleinen Dingen erfreuen – zum Beispiel am «Lädelen».
Für eine erfolgreiche Behandlung gebe es kein Patentrezept. Jede Situation sei individuell und verlange unterschiedliche Schwerpunkte. «Es braucht in jedem Fall aber viel Zeit und Geduld», sagen die Infektiologen.
Alle Betroffenen müssten sich auf ein multidisziplinäres Vorgehen auch mit psychologischer Unterstützung einlassen, um eine langfristige Verbesserung zu erreichen. Niederer-Loher und Kahlert sagen:
(aargauerzeitung.ch)
Viel Kraft den Erkrankten und ihren Angehörigen.