Der Bundesrat wurde von der zweiten Welle überrascht, die sich im September in der Schweiz aufbaute. So hiess es jedenfalls gemeinhin. Noch im Dezember sagte Gesundheitsminister Alain Berset in der SRF-Sendung «Sternstunde Philosophie», sein grösster Fehler sei gewesen, dass er im Sommer zu optimistisch war.
Die Grossveranstaltungen hätten nicht erlaubt werden dürfen. Zu seiner Entschuldigung sagt Berset: «Wir haben immer aufgrund der Informationen entschieden, die wir im Moment hatten. Was wahr ist an einem Tag, kann schon am nächsten falsch sein. Das ist das Merkmal einer Krise.»
Nun zeigt aber ein vertrauliches Dokument von Anfang August, dass Berset klare Warnungen von Experten aus seinem Bundesamt für Gesundheit ignorierte. Der Tagesanzeiger erkämpfte sich Zugang zum Dokument, Bersets Departement wollte es zuerst nicht freigeben.
Ein vertrauliches Dokument zeigt: Alain Berset wurde vor der zweiten Welle von seinen Experten in deutlichen Worten gewarnt. Doch das Papier kam in die Schublade. Am Schluss half nur noch eins: Beschönigen. Die ganze Recherche hier: https://t.co/1XPf1xSHRa pic.twitter.com/6d6iYnfxqx
— Christian Brönnimann (@ch_broennimann) February 14, 2021
Begründung: Das Dokument sei «nicht über ein Entwurfsstadium, das vom Generalsekretariat genehmigt wurde, hinaus gekommen und dem Bundesrat schliesslich auch nicht vorgelegt.» Der BAG-Rechtsdienst lenkte aber schlussendlich ein.
Das Dokument stammt aus der Feder der BAG-Arbeitsgruppe «Strategie», die Vorbereitungen auf eine allfällige zweite Welle treffen sollte. Die steigenden Zahlen erweckten anscheinend das Misstrauen der Arbeitsgruppe, und so wird am 6. August im Papier festgehalten:
Zusammen mit dem Anstieg der Positivitätsrate: «Ein klares Signal für eine epidemische Trendwende» – nur eine Frage der Zeit, bis auch die Anzahl der Todesfälle ansteigen würde. Die Bilanz:
Einen Tag später lässt die Arbeitsgruppe laut Tagi im Protokoll ergänzen:
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Schlussendlich nicht viel. Anscheinend kam es am Abend des 10. Augusts zu einem Treffen zwischen Berset und der Arbeitsgruppe Strategie. Was genau besprochen wurde, ist nicht klar. Es existieren laut Bersets Sprecherin keine Protokolle, schreibt der «Tagi» weiter.
Was man weiss: Gebracht hat das Treffen nichts, zwei Tage später – am 12. August – beschloss der Bundesrat, dass Grossveranstaltungen mit mehr als 1000 Personen ab Oktober wieder zugelassen werden.
Das Papier erreichte den Bundesrat nicht. Zwar heisst es von Bersets Sprecherin, dass dieser wie «an fast jeder Sitzung schriftlich über die aktuelle Lagebeurteilung informiert» werde. Gemäss Lagebeurteilung wird die Warnung der Arbeitsgruppe aber nicht erwähnt.
Ebenso blieb die Bevölkerung im Unwissen: Berset sagte am Abend des 12. Augusts in der SRF-Sendung «10 vor 10»: «Im Moment haben wir die Kontrolle über die epidemiologische Situation.»
Die Arbeitsgruppe Strategie nahm den Entscheid des Bundesrats «zur Kenntnis» – an einer Sitzung in der Folgewoche fragte sie nach, «ob das aktuell gültige Oberziel noch immer darin besteht, eine zweite Welle zu verhindern.» (jaw)