Auf den ersten Blick war alles wie gehabt. Ständerat Marco Chiesa wurde an der Delegiertenversammlung der SVP Schweiz am Samstag in Brugg-Windisch (AG) per Akklamation zum neuen Parteipräsidenten gewählt. Mit markigen Worten bekannte sich die Partei auch zu ihrer Begrenzungs-Initiative, über die am 27. September abgestimmt wird.
Vor Ort im Campussaal der Fachhochschule Nordwestschweiz allerdings hatte man den Eindruck, die seltsamste SVP-DV seit dem rasanten Aufstieg der Partei vor rund 30 Jahren zu erleben. Schon der Auftakt mit der Landeshymne sorgte für Spott («Trittst im Aerosol daher»). Dabei hatte die Partei ein umfassendes Schutzkonzept erarbeitet.
Im Saal selbst trugen nur das Servicepersonal und die Medienleute eine Maske. Ein Kollege einer grossen Zeitung gab zu, dass ihm nicht wohl in seiner Haut war. Er hatte Covid-Patienten in der Reha porträtiert und weiss, was das Virus anrichten kann. Selbst der scheidende Parteichef Albert Rösti warnte die Delegierten vor einer drohenden Quarantäne.
In der Coronakrise ist eine Versammlung mit rund 400 Personen eine Gratwanderung. Doch dieser Aspekt sorgte weniger für Irritation als die Gefühlslage der Partei. Diese befindet sich nach einer Serie von Niederlagen weit weg von ihrer Bestform. Nach den verlorenen Wahlen im letzten Herbst brach ein Richtungsstreit zwischen «Bewahrern» und «Erneuerern» aus.
An der DV wurde er übertüncht. Die Delegierten folgten stramm der Parteilinie, natürlich auch bei der Begrenzungs-Initiative. Aber auch die scharfen Voten – etwa von Nationalrat Thomas Matter («Hütet euch vor Bundesräten mit Doppelnamen: Keller-Sutter, Schneider-Ammann, Widmer-Schlumpf») – konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass manche SVPler sich mit der absehbaren Niederlage wohl abgefunden haben.
Als der Thurgauer Nationalrat und neue Vizepräsident Manuel Strupler die Delegierten eindringlich aufrief, das von einigen Exponenten lancierte Referendum gegen die Überbrückungsrente zu unterzeichnen (bei den Unterschriften gibt es offenbar viel Luft nach oben), erhielt er bloss höflichen Applaus. Keine Spur von Enthusiasmus.
Wie viel Sand im Getriebe der SVP steckt, zeigt sich nach der Mittagspause bei der Wahl eines neuen Präsidenten. Die Findungskommission unter Leitung des früheren Fraktionschefs Caspar Baader suchte monatelang nach einem Nachfolger für Albert Rösti. Man habe 22 Leute angefragt, 13 Absagen erhalten und 9 Gespräche geführt, sagte Baader.
Am Ende entschied man sich für einen, der ursprünglich auch nicht wollte: den Tessiner Ständerat Marco Chiesa. Die Nationalräte Andreas Glarner und Alfred Heer, die sich offiziell beworben hatten, wurden schnöde abserviert. Während sich Glarner sofort zurückzog, liess Heer bis zuletzt offen, ob er Chiesa an der Delegiertenversammlung herausfordern würde.
Am Ende war es Benjamin Fischer, der Präsident der SVP Zürich, der Heers Rückzug verkündete. Damit aber war die Sache nicht «gegessen». Ein Luzerner wagte das Undenkbare: Er kritisierte «Übervater» Christoph Blocher dafür, dass er Rösti «das Vertrauen entzogen» habe. Die Politik bei der SVP erfolge «von oben nach unten», klagte er.
Es war dem Mann anzuhören, wie viel Überwindung ihn dieses Rütteln am lebenden Denkmal kostete. Dabei sprach er nur das Offensichtliche aus: Die SVP, die die direkte Demokratie zur «heiligen Kuh» erhoben hat, wird nach dem Top-down-Prinzip geführt. Nicht der Vorstand und schon gar nicht die DV geben die Richtung vor, sondern Herrliberg.
Der im Saal anwesende Blocher sagte kein Wort. Dafür schritten zwei Frauen aus dem Aargau und aus St. Gallen ans Mikrophon. Sie kritisierten das Wahlprozedere und kündigten Stimmenthaltung an. Drei kritische Stimmen sind in der SVP fast schon eine Revolution. Die grosse Mehrheit der Delegierten allerdings liess sich davon nicht beeindrucken. Sie «wählten» Chiesa mit Standing Ovation.
Damit verhinderten sie, dass Enthaltungen oder Nein-Stimmen ausgezählt werden konnten. Marco Chiesa selbst wurde den über ihn kolportierten Klischees gerecht, im Gespräch mit watson wie auf dem Podium. Er hielt seine Antrittsrede in passablem Deutsch und vor allem mit lateinischem Charme, was durchaus erfrischend wirkte.
Der neue Mann an der Spitze wird die personellen Probleme der SVP allein nicht lösen. Ausserhalb ihrer Kernthemen fehlt es der Partei an profilierten Köpfen. Man sei daran, das zu ändern, sagte der Luzerner Nationalrat Franz Grüter im Gespräch mit watson. Er wird Chiesa in der neuen Funktion als «Stabschef» entlasten und primär die kantonalen Sektionen «beackern».
Damit erhält die SVP faktisch ein Präsidium im Job-Sharing: Grüter kümmert sich um die Basis, Chiesa ist für die Aussenwirkung zuständig. Er wird keinen Lohn, aber eine Spesenentschädigung erhalten. Nachdem er seinen Job als Leiter eines Altersheims gekündigt hat, wird Marco Chiesa zu einem der Blocher so verhassten Berufspolitiker.
Gewisse Entwicklungen machen auch vor der SVP nicht halt. Die einst so straff geführte Partei zeigt Anzeichen des Zerfalls. Mandatsträger etwa lästern hinter vorgehaltener Hand schon lange über die Dominanz des Blocher-Clans. Nun dringt diese Kritik auch an die Basis durch, wie das Votum des Luzerner Delegierten zeigte.
Auf Marco Chiesa kommt einiges zu. Man traut dem Tessiner zu, dass er im Amt wachsen wird. Vorerst droht ihm aber ein happiger Fehlstart am 27. September. Albert Rösti ermahnte die Delegierten, sie sollten seinen Nachfolger nicht an diesem Resultat messen. Es war ein seltener Moment des Realitätssinns an dieser nicht nur wegen Corona seltsamen Politshow.
Chancho
Der Pate hat seinen Stadthalter und die "Italianizzazione" des Clans schreitet fort.
Was will man noch mehr als einen mezzo Italiano der seine kalabresischen Wurzeln zu verleugnen versucht.
Viva Italia!
HugiHans
Pafeld