Zwei Jahre hat der Bundesrat das Land durch die Pandemie geführt. Nun werden die Zeugnisse geschrieben. Eines steht schon fest: Für die Vorbereitungen auf die Pandemie erhalten Bund und Kantone schlechte Noten. Die Verfügbarkeit von Schutzmaterial und wichtigen Medikamenten sei am Anfang der Krise nicht gewährleistet gewesen. Ein Pandemieplan habe zwar bestanden, sei aber kaum jemandem bekannt gewesen, so die einhellige Meinung. In einer Studie, die das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in Auftrag gegeben hat, schreiben die Experten: «Wir empfehlen dem Bund und den Kantonen, die Gesundheitsversorgung im Pandemie-Fall verbindlicher zu regeln und zudem ganzheitlicher zu planen.»
Es ist eine Empfehlung, die nicht in die ferne Zukunft weist, sondern unangenehm aktuell ist. Noch immer stecken sich jede Woche mehrere tausend Personen mit Corona an. 107 Menschen starben im letzten Monat an den Folgen der Krankheit. Trotzdem scheint es, als sei die Pandemie vorbei: Die Massnahmen sind aufgehoben, die Maskenpflicht abgeschafft.
Doch die Normalität ist trügerisch. Der nächste Winter kommt bestimmt. Und mit ihm die nächste Coronawelle: Die Viruszirkulation dürfte im Winterhalbjahr wieder zunehmen, heisst es in einem Grundlagenpapier des Bundesrats: «Wie stark die Viruszirkulation sein wird und welche Herausforderungen dadurch für die Gesellschaft sowie für das Gesundheitssystem entstehen werden, ist aktuell nicht vorhersehbar.»
Da wäre zu erwarten, dass sich Bundesrat, Kantone und Parteien an die Empfehlungen der Experten halten und im Hinblick auf nächsten Winter besondere Vorsicht walten lassen. Doch in der Politik regiert gerade das Prinzip Hoffnung. Darauf deuten Entscheide der letzten Wochen zur künftigen Teststrategie, zur Beschaffung von Impfstoffen und zum Umgang mit der Pandemie ganz grundsätzlich.
Zur Teststrategie. Mit der Änderung des Covid-Gesetzes vom 27. April schlägt der Bundesrat vor, dass die Kantone bereits ab dem 1. Januar für die Tests zuständig sein sollen. Mit dem Entscheid, der gegen den Antrag des Innendepartementes von Gesundheitsminister Alain Berset gefällt worden sein soll, widerspricht sich der Bundesrat in mehrfacher Hinsicht selber.
So heisst es im gleichen Papier, wegen des zu erwartenenden Anstiegs der Fallzahlen sei spätestens im Herbst-Winter «auch in einem günstigen Szenario eine flächendeckende Ermöglichung der Testung wichtig». Ohne ausreichende Übersicht, bestehe ein «beträchtliches Risiko, dass der Moment verpasst wird, in welchem erste niederschwellige Massnahmen wie Isolations- und Quarantäneregeln oder auch die Maskenpflicht in Innenräumen angezeigt wären».
Nebenbei sei bemerkt, dass der Bundesrat noch Ende März festhielt, wegen der Unsicherheiten der epidemiologischen Entwicklung solle bei der Rückkehr zur Normalität eine Übergangsphase «bis zum Frühling 2023 andauern». Was das Testen betrifft, verkürzt die Regierung diese Frist nun auf den 1. Januar.
Bei den Kantonen kommt das schlecht an: «Es ist nicht nachvollziehbar, dass der Bundesrat ausgerechnet in den Wintermonaten einen Wechsel bei der Testkostenübernahmen und bei der Teststrategie vorschlägt», schreibt die Konferenz der Gesundheitsdirektoren (GDK) auf Anfrage.
Auch wenn die GDK Empfehlungen abgäbe, sei zu erwarten, dass die Testregimes unterschiedlich geregelt würden. «Damit würde die schweizweite Überwachung des Infektionsgeschehens beeinträchtigt und die bisher erfolgreiche Schweizer Teststrategie gefährdet.»
Zudem müssten eingespielte Abläufe mitten in einer möglichen Welle neu organisiert werden, unter Zeitdruck: Über die Reform des Covid-Gesetzes entscheidet das Parlament erst Mitte Dezember. Die Erfahrungen mit kantonalen Flickenteppichen lassen wenig Gutes erwarten.
Ein weiterer kritischer Punkt betrifft die Beschaffung von zusätzlichem, neuem Impfstoff. Hier lohnt sich ein kurzer Blick zurück: Es ist nicht lange her, da prasselte Kritik auf Alain Berset nieder, weil er ein angebliches Angebot, in die Impfstoffproduktion der Lonza zu investieren, abgelehnt habe.
Nun, knapp zwei Jahre später, das Gegenteil: Jetzt hegen Parlamentarier Vorbehalte, im Hinblick auf den Winter zusätzliche Impfstoffe zu beschaffen. Vorberatende Gremien des Nationalrats haben entsprechende Geschäfte in einem ersten Anlauf nicht bewilligt und verlangen zusätzliche Abklärungen.
Es geht um den Kauf von je 7 Millionen Impfdosen von Pfizer/Biontech sowie von Moderna. Hinzu kommen Optionen für die Beschaffung von je weiteren 7 Millionen Dosen beider Hersteller. Doch wozu diese grosse Bestellung, sind doch bei der Armeeapotheke und den Kantonen rund 7 Millionen Dosen vorrätig? Zunächst, weil die vorhandenen Bestände allmählich ihr Ablaufdatum erreichen und entweder bald an andere Staaten und Organisationen abgegeben werden können oder vernichtet werden müssen.
Zudem ist es dank der MRNA-Technologie möglich, die Vakzine auf allenfalls neu auftauchende Virusvarianten anzupassen und so ihre Wirksamkeit zu erhalten. Die hohe Zahl der Bestellungen erklärt sich damit, dass nicht sicher ist, ob beide Produzenten gleichermassen wirksame Impfstoffe anbieten können. Oder dass eine Virusvariante auftaucht, die erneut zwei Impfungen pro Person erfordert. Beide Fälle können aus heutiger Sicht nicht ausgeschlossen werden.
Deshalb möchte der Bund dafür sorgen, dass sich alle impfen können, die das wollen – mit dem Risiko, dass er (wenn bestenfalls Covid effektiv an Schrecken verliert) dereinst Impfdosen in grosser Zahl vernichten muss. Es ist am Parlament, diese vorsichtige Strategie nun zu ermöglichen oder zu stoppen.
Heftige Diskussionen sind gewiss. Das zeigt die Stellungnahme der SVP zur Revision des Covid-Gesetzes. Sie lehnt die Verlängerung einzelner Bestimmungen grösstenteils ab. Die zu erwartenden saisonalen Erkrankungswellen mit SARS-CoV-2 seien «nach der hergestellten Grundimmunisierung der breiten Bevölkerung wie jede andere virale Infektionskrankheit zu behandeln». Testkosten seien in der Regel privat zu tragen, die Beschaffung von Impfstoffen zu normalisieren. Ein Zertifikat duldet die SVP lediglich für Auslandreisen. «Das teure, bevormundende und föderalismus-feindliche Regime ist vollständig abzubauen.»
Es ist die Wette darauf, dass Corona nach der Sommerpause gar nicht oder bloss abgeschwächt zurückkehrt. Eine Wette, vor der die Experten, die zurzeit die Schweizer Pandemiepolitik beurteilen, dringend abraten.
Da ist es viel einfacher nichts zu tun und dann im "Schadenfall" einen Sündenbock zu suchen.