Als Marco Jäggli an diesem Nachmittag Anfang Mai einen Park in der Nähe des Bahnhofs von Lugano erreicht, beschleicht ihn ein mulmiges Gefühl. In der etwas heruntergekommenen Anlage erblickt er gut ein Dutzend Teenager, alle sind schwarz gekleidet. Jäggli ist Lehrer für Allgemeinbildung. Er unterrichtet Jugendliche, die vor Beginn ihrer Berufsausbildung ein Zwischenjahr einschalten.
In der Freizeit macht Jäggli Sendungen für Radio Gwendalyn. Es ist ein alternatives Tessiner Privatradio mit Sitz Chiasso, das vor allem über lokales Kulturschaffen berichtet. Getragen wird es von freiwilligen Mitarbeitern, die bloss Spesen erhalten. Besserung ist in Sicht. Das Bundesamt für Kommunikation hat dem alternativen Sender eine Konzession erteilt. Ab dem nächsten Jahr fliessen gut 550'000 Gebührenfranken.
Als Pädagoge Jäggli den Umgang mit sozialen Medien thematisiert, kommt er einer unfassbaren Geschichte auf die Spur: Eine Schülerin erzählt, ein Bekannter von ihr jage mit Freunden via soziale Medien Pädophile. Jäggli kontaktiert die Jugendlichen für ein Radiointerview. Die Begegnung findet im besagten Park statt.
Dort legt sich Jägglis mulmiges Gefühl schnell. Zwei Jugendliche im Pickelalter treten aus der Gruppe hervor und stehen ihm eine Stunde lang Red und Antwort. «Sie würden auf der Strasse nicht auffallen», sagt Jäggli. Der jüngere der beiden, der damals 13-Jährige, ist der mutmassliche Anführer der Bande.
Der Radiojournalist denkt, er lande eine Scoop, die Reportage werde einschlagen. Doch als sie am 10. Mai über den Sender geht, bleibt es in der Medienlandschaft weitgehend stumm. Nur tio.ch, die Tessiner Version von 20 Minuten, greift das Thema auf.
Fünf Monate später ist alles anders. Die Minderjährigen beherrschen seit Tagen die Schlagzeilen, zumindest in den Tessiner Medien. Die Polizei und die Staatsanwaltschaft verhafteten Anfang Oktober in einer koordinierten Aktion 19 Jugendliche, davon 18 im Alter von 14 bis 18 Jahren. Einige von ihnen verbrachten eine Nacht im Gefängnis. Ihnen werden schwere Körperverletzung, Angriff, Nötigung, Raub, Freiheitsberaubung und Erpressung vorgeworfen.
Dass erst die Medienmitteilung der Polizei ein breites Echo auslösen würde, verblüfft. Denn in dem neunminütigen Beitrag mit Radio Gwendalyn erzählen die zwei Jugendlichen, die höchstwahrscheinlich zu den Verhafteten gehören, reihenweise alarmierende Sachen.
Zuerst beschreiben sie ihre Vorgehensweise: Sie kreieren auf Datingplattformen und in sozialen Medien fingierte Profile von Minderjährigen. Sie warten, bis mutmassliche Pädophile anbeissen, vereinbaren mit ihnen ein Treffen im erwähnten Park in Lugano oder in einer Wohnung. Zuerst zeigt sich nur der Lockvogel.
Dann tauchen mehrere mit Gummiknüppeln bewaffnete Kollegen auf. Sie verprügeln die Männer, erniedrigen sie, zwingen sie zu Geständnissen und filmen sie dabei. Die Jugendlichen stellten die Videos anfänglich in eine geschlossene Onlinegruppe; unterdessen sind sie gelöscht.
Den Startschuss zur Do-it-yourself-Justiz lieferte ein über 30-jähriger Mann. Er soll einer Freundin der Jugendlichen via soziale Medien intime Fotos geschickt und sie zu Sex mit ihm animiert haben. Die Jugendlichen fädelten ein Rendezvous ein, um ihm eine Lektion zu erteilen. Der Mann suchte das Weite, als er auf die Bande traf.
Die Jugendlichen misstrauen der Polizei. Sie sagen in dem Radiobeitrag, sie hätten sie informiert, dass ein Pädophiler geflüchtet sei. Doch sie habe geantwortet, sie könne derzeit nichts unternehmen, es tue ihr leid. Die Tessiner Kantonspolizei kommentiert diesen Vorwurf nicht. Ein Sprecher hält fest: «Wir empfehlen, mögliche Delikte immer der Polizei zu melden, anstatt sich und andere möglicherweise in Gefahr zu bringen und selber strafbare Handlungen zu begehen.»
Im Interview verrät der 13-Jährige seine Gesinnung: «Sehr rechts.» Sein Kollege bezeichnet sich sogar als «Ökofaschist». So überrascht es wenig, dass sie den Modus Operandi von einem russischen Neonazi und Schwulenhasser abgekupfert haben, der mehrfach im Gefängnis sass und 2020 tot in seiner Zelle aufgefunden wurde. Sein Name: Maxim Sergejewitsch Marzinkewitsch, auch bekannt als Tesak.
Tesak gab zu, in mehrere Morde an Migranten involviert gewesen zu sein. Er gründete die Bewegung «Occupy Pedophilia» und köderte mit jungen Männern mutmassliche Pädophile, um sie danach zu demütigen: Er liess sie an Sexspielzeugen saugen, verprügeln, mit Urin übergiessen. Es sind Praktiken, welche die Nachahmer aus dem Tessin eins zu eins kopieren.
Ja, dass Tesak in Morde verwickelt sei, beschäftige ihn schon ein bisschen, sagt der 13-Jährige gegenüber Radio Gwendalyn. Andererseits stifteten Migranten in Russland bloss Chaos, relativiert er. In der Schweiz sei dies anders: «Sie arbeiten.» Töten dürfe man niemanden, Gewalt anwenden hingegen schon, fährt er fort.
Am 12. Mai, zwei Tage, nachdem Radio Gwendalyn die Reportage ausgestrahlt hat, passiert etwas Entscheidendes. Ausgerüstet mit Gleitcrème und fünf Präservativen, macht sich ein 49-jähriger Italiener auf zum vermeintlichen Stelldichein mit einem minderjährigem Sexpartner beim Park in Lugano. Zuerst erblickt er sein Onlinedate. Dann treten vier Jugendliche in Aktion und verhauen ihn. Ein Anwohner filmt die Szene vom Balkon aus und ruft die Polizei.
Der Italiener wird gleichentags verhaftet. Anfang Oktober verurteilte ihn ein Luganeser Gericht zu zehn Monaten bedingt wegen versuchter sexueller Handlungen mit Kindern. Von der Attacke trug er Verletzungen am Gesicht hervor, wie der «Corriere del Ticino» berichtete.
Es ist plausibel, dass der Fall die Polizei zu den Jugendlichen führte. Gemäss Recherchen des italienischsprachigen Radio und Fernsehens der Schweiz (RSI) stellten sie zwischen Januar und Mai rund 20 Pädophilen eine Falle, bei etwa zehn resultierten daraus Bestrafungsexpeditionen.
Gemäss Recherchen von CH Media stammen die 19 verdächtigen Jugendlichen aus unterschiedlichen sozialen Schichten: Der Teenager in Trainerhose macht gemeinsame Sache mit dem schick gekleideten Anwaltssohn. Einige von ihnen sollen eine Privatschule besuchen.
Marco Jäggli hat einige ihrer Videos gesehen. Darin habe der mutmassliche Bandenchef interveniert, wenn seine Freunde zu brutal vorgingen. Er strahlte so etwas wie Autorität aus.
Dass er etwas Illegales tue, beunruhige ich schon etwas, räumt der Jugendliche im Radiointerview ein. Es sagt aber: «Für uns zählt mehr, dass wir handeln.» Wie kommt es, dass fast Jugendliche strafrechtliche Sanktionen riskieren für eine vermeintlich edle Mission? Der bekannte Jugendpsychologe Allan Guggenbühl sagt, Jugendliche sähen sich oft als Kämpfer für eine gerechte Sache. Sie würden dieses Engagement mit einer gewissen Selbstherrlichkeit leben und dann ohne vertiefte Abklärungen jemanden verurteilen.
Ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn könne auch positiv sein. Im vorliegenden Fall aber hätten die Jugendlichen völlig überbordet und sich als aggressive Helden inszeniert. Dass Erwachsene während Monaten nichts vom sonderbaren Treiben von den Racheaktionen mitbekommen haben, erstaunt Guggenbühl nicht. «Es gehört zum Entwicklungsprozess, dass Jugendliche Geheimnisse haben.»
Fest steht, dass Teenager in den sozialen Medien häufig Opfer werden von unerwünschten sexuellen Avancen. Das Phänomen nennt sich Cybergrooming. Die James-Studie 2022 der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (siehe Grafik) offenbarte, dass fast die Hälfte der 12- bis 19-Jährigen in der Schweiz schon einmal von einer fremden Person online mit unerwünschten sexuellen Absichten angesprochen wurde. Beim Beratungstelefon 147 von Pro Juventute melden sich jeden zweiten Tag Jugendliche, die online mit Sexanfragen behelligt wurden. Das sind doppelt so viele wie im Jahr 2020.
Pro Juventute rät Jugendlichen dringend davor ab, Selbstjustiz zu verüben. Sprecherin Lulzana Musliu sagt aber auch: «Wir müssen als Gesellschaft dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche wirksam vor Cybergrooming geschützt werden und bei entsprechenden Vorfällen Unterstützung erfahren. Fühlen sie sich im Stich gelassen, kann bei ihnen das Gefühl entstehen, selbst für Gerechtigkeit sorgen zu müssen.»
Pro Juventute empfiehlt Eltern, Kinder früh auf die Gefahren von Cybergrooming zu sensibilisieren. Tipps für den Umgang mit diesem Problem erteilen auch andere Stellen wie die Schweizerische Kriminalprävention.
Für Minderjährige kommt das Jugendstrafrecht zur Anwendung. Als Strafe drohen 10- bis 14-Jährigen eine persönliche Leistung von höchstens zehn Tagen; das kann gemeinnützige Arbeit sein, zum Beispiel ein Einsatz im Altersheim. Ab 15 Jahren können solche soziale Einsätze bis zu drei Monate dauern. Ein Freiheitsentzug ist ab diesem Alter möglich. Möglich sind auch erzieherische Massnahmen. Derweil untersucht die Tessiner Kantonspolizei, inwiefern sich die mutmasslichen Pädophilen strafbar gemacht haben, die in die Falle der Jugendlichen tappten. In Kommentarspalten und in einer Strassenumfrage von RSI erhielten diese einiges an Zuspruch für ihre Taten. (aargauerzeitung.ch)
Die Lust an der Gewalt scheint doch der grössere Motivator zu sein als Gerechtigkeit.