Es ist nicht das erste Mal. Man hat schon öfters darüber gelesen, davon gehört oder steckte gar selber schon in so einer unangenehmen Situation. Zwischenfälle mit Kühen beim Wandern gibt es immer wieder. In Graubünden etwa kommt es im Schnitt zwei- bis dreimal jährlich zu Angriffen durch Mutterkühe. Dabei werden Menschen leicht bis schwer verletzt. Angriffe mit Todesfolge hingegen sind sehr selten. Deswegen sind seit dem Unfall am vergangenen Freitag auch alle geschockt.
Eine 77-jährige Frau aus Berlin wollte in Laax GR durch eine eingezäunte Kuhherde wandern, die sich um und auf dem Wanderweg aufhielt. Dabei wurde sie von den Mutterkühen angegriffen und getötet. Die Diskussion um das Aufeinandertreffen von Wanderern und Kühen hat sich neu entfacht. Die Leute sind hellhörig.
Dabei drängen sich folgende Fragen auf: Sollen Weiden, wo Mutterkühe gehalten werden, ausgezäunt und damit von den Wanderwegen abgetrennt werden? Oder verhalten wir Menschen uns falsch, haben wir den Respekt verloren? Kommen wir den Tieren zu nahe und dringen womöglich zu sehr in die Natur ein? Im Netz wird darüber gerade heftig diskutiert.
Insbesondere auf der Facebook-Seite der Kantonspolizei Graubünden finden sich Anhänger zweier Lager. Nennen wir sie «Anti-Mensch» und «Anti-Tier». Erstere plädieren für Eigenverantwortung. Sie regen sich über das rücksichtslose Verhalten der Wanderer auf. Vor allem Touristen und Städter seien zu unerfahren und wüssten nicht, wie man sich in der Natur richtig verhält.
Die zweite Fraktion ist der Meinung, dass keine Herde mit Mutterkühen auf offizielle Wanderwege gehört und fordert, dass Bauern ihre Zäune so stellen, dass ihre Kühe nicht auf Wanderwegen grasen. Die Gemeinde Laax hat schon reagiert: Der Wanderweg, auf dem der Unfall am Freitag passiert ist, wurde so verlegt, dass die Herde nicht mehr mit Wanderern in Kontakt kommen kann.
Auch die Interessensvertreter sind gespalten. Die eine Lösung gibt es nicht. Walter Grass, Präsident des Vereins Bündner Wanderwege (BWA), fordert im Regionaljournal von Radio SRF, dass Weiden mit Mutterkühen eingezäunt werden.
Beim Dachverband Wanderwege Schweiz ist das Thema «Auszäunung» nicht erst seit dem jüngsten Unfall aktuell. Immer öfter werden laut Geschäftsleiter Michael Roschi Risikobeurteilungen bei Wanderwegen, welche durch Mutterkuhherden führen, gemacht. Die Kühe können aggressiv reagieren, wenn sie sich und mit den Jungen bedroht fühlen. Je nach Gefahrenpotenzial wird die Herde vom Wanderweg abgetrennt oder der Weg wird umgeleitet. In seltenen Fällen kann es mangels Alternative auch zur Auflösung eines Wanderweges kommen. «Wir sind daran, weitere Massnahmen zu ergreifen, um die Sicherheit beim Wandern zu gewährleisten. Aufgrund des Unfalls werden wir noch mehr auf die Gefahren durch Mutterkühe eingehen und die Wanderer darauf sensibilisieren», sagt Roschi.
Wäre kein Kontakt zwischen Kühen und Menschen beim Wandern auf Alpweiden die beste Lösung? Roschi kann nicht beurteilen, ob das möglich ist. Dies gelte es nun zu prüfen.
Ein Netz-Kommentator fragt: «Warum hat man vor 20 Jahren nie von solchen Fällen gehört. Was hat sich geändert?»
Zum einen gibt es immer mehr Leute in den Wandergebieten. Eine aktuelle Studie bestätigt, dass Wandern des Schweizers Volkssport Nummer eins ist. Dadurch kommen sich Mensch und Tier in den Alpen zwangsläufig näher, was tendenziell zu mehr Unfällen führen kann. Oft sind es unerfahrene Gelegenheitswanderer, die sich zu wenig informieren und nicht wissen, wie man sich richtig verhält.
Auch Michael Roschi ist klar: Je weniger Erfahrung, desto grösser die Gefahr. Deshalb sollten sich speziell Unerfahrene mit Merkblättern informieren. Diese sind in Tourismusbüros, Bergbahnstationen und auf der Website wandern.ch zu finden. Seit einigen Jahren sind bei Mutterkuhherden auch Warn- und Verbotsschilder angebracht (an der Stelle, an der die verunglückte Deutsche den Zaun öffnete, steht seit längerem ein Warnschild).
Die Situation hat sich in den letzten Jahren sicherlich auch verschärft, weil es einen Trend zur Mutterkuhhaltung gibt. «Die Muttertierhaltung hat stark zugenommen. Dass die Sömmerung ökologisch positiv ist für die Biodiversität, die Nachhaltigkeit und auch für Konsumenten, bestreitet niemand», sagt Urs Vogt von der Vereinigung Mutterkuh Schweiz. Auszäunen sieht er aber trotzdem nicht als Widerspruch dazu. Man müsse jetzt abwägen, wo es Sinn mache. Man sei bemüht, dass die Weiden auch für den Tourismus genutzt werden können.
Doch für viele Landwirte wird das Auszäunen zu aufwendig sein. So wie etwa für Daniel Albiez vom Bauernverband Schweiz. Auch wenn er keine Patent-Lösung hat, findet er das Abzäunen nicht praktikabel. Seiner Meinung nach könnte dies Landwirte veranlassen, die Weide nicht mehr zu bewirtschaften. Er landet mangels Alternativen aber auch schnell bei Zäunen, wobei er anmerkt, dass diese etwas mehr, aber nicht die totale Sicherheit versprächen. Er plädiert allgemein für Distanz und rät den Wanderern, Abstand zu halten.
Gestern eröffnete die Staatsanwaltschaft Graubünden eine Untersuchung. «Dabei geht es darum, herauszufinden, wie es zum Vorfall kommen konnte», sagt Maurus Eckert von der Staatsanwaltschaft Graubünden zu watson. Vorläufig richte sich die Untersuchung nicht gegen eine bestimmte Person.