Die Geschichte über das Rätsel des alten Hühnerhändlers (nicht zu verwechseln mit dem Vogelhändler – das ist eine Operette) hat ihren Ursprung im Wirtshaus. Wie so viele grosse Erzählungen der Weltliteratur. Dort ist mir folgende Begebenheit zugetragen worden: Ein alter Bauer, der sich ins Stöckli zurückgezogen hat, vertreibt sich die Zeit mit Hühnerhandel. Nach einer bestimmten Zeit mustern unserer Legehühner-Farmer offenbar die Legehennen aus. Weil sie nicht mehr genug Eier oder zu grosse Eier legen.
Einer dieser Farmer überlässt dem Hühnerhändler jeweils ein paar solcher ausgemusterten Hennen für einen Franken das Stück zur freien Verwendung, und der verkauft sie dann an private Hühnerliebhaber. Ein paar hat er auch für sich beim Stöckli behalten.
Als das Federvieh in die Jahre gekommen sei und keine Eier mehr legen mochte, da habe er den Tieren einen ruhigen Lebensabend gegönnt. Aber irgendwann sei seine Frau der Meinung gewesen, ein Hühnerhof sei kein Gnadenhof und es sei «öppis Narochtigs» (auf Deutsch: etwas Blödes), Hühner zu füttern, die nicht mehr legen.
Aber er habe es einfach nicht übers Herz gebracht, die alten Hühner umzubringen. Also habe er einfach den Schieber (die Türe) zum Hühnerstall offen gelassen. Damit der Fuchs seines Amtes walte und die Hühner hole. Und nun sind wir beim ungelösten Rätsel angelangt. Der Fuchs habe das Federvieh nicht geholt.
Einen vernünftigen Grund für die Gnade des Fuchses gebe es nicht. Kein böser Hofhund bewache den Hühnerstall und nie habe jemand dem Fuchs mit dem Jagdgewehr aufgelauert oder ihm heimtückisch eine Falle gestellt. Ja, der alte Hühnerhändler habe den Fuchs sogar mehrmals ums Hühnerhaus herumschleichen sehen.
Schliesslich habe er einen kundigen Bekannten in der Sache befragt und erstaunlichen Bescheid bekommen: Das sei ganz normal. Der Fuchs hole grundsätzlich keine Hühner, die keine Eier mehr legen. Diese Auskunft sei von verschiedenen Seiten bestätigt worden.
Der Fuchs nimmt also keine Hühner, die nicht mehr Eier legen. Ist das möglich? Ist das nicht bloss ein Scherz? Wie kann der Fuchs wissen, ob ein Huhn noch Eier legt? Ist das Nahrungsangebot so reichhaltig, dass die Füchse nur knackig-frische Hühner fressen und alte, zähfleischige Hennen verschmähen?
Die Geschichte hat eine Fortsetzung und wird noch rätselhafter. Da der Hühnerhof des alten Hühnerhändlers nach der Meinung seiner Gattin kein Gnadenhof für alte Hühner ist, hat der Hühnerhändler die Tiere in Gottes Namen halt einem Bekannten zur freien Verfügung weitergegeben. Gratis.
Nach ein paar Tagen erkundigte er sich dann, was aus den alten Hühnern geworden sei. Die Antwort seines Bekannten habe ihn dann doch überrascht: Der Fuchs habe natürlich die Hühner geholt. So? Ja, ja, aber nicht lebend. Er habe die Hühner umgebracht und der Fuchs habe dann das tote Federvieh fortgeschafft. Das heisst also: Lebende Hühner, die nicht mehr legen, mag der Fuchs nicht. Tote hingegen schon. Ist das möglich?
Die Frage hat mich beschäftigt. Ich habe einige Bücher gewälzt. Aber keine befriedigende Antwort gefunden. Im dritten Band des Werkes «Wildbiologische Informationen für den Jäger» gibt es folgende Auskunft über das Fressverhalten: «Der Fuchs ist ein Allesfresser, wenn auch die tierische Nahrung überwiegt. Von Insekten, Schnecken und Würmern bis zu Rehkitzen, Schaflämmern, Bodenbrütern bis Auerhühnern und deren Gelegen, Aas, Beeren, Früchten, Gras und Kartoffeln wird alles aufgenommen. In Siedlungsnähe werden Müllplätze regelmässig kontrolliert. Hausgeflügel wird besonders während der Geheckaufzucht geraubt. Die Nahrung besteht im Jahresdurchschnitt aus 42 Prozent Mäusen, 32 Prozent Wild, 8 Prozent Insekten und 18 Prozent Pflanzen bei einem täglichen Bedarf von einem halben bis einem ganzen Kilo.»
Nun wissen wir zwar viel mehr. Aber eben doch nicht, ob der Fuchs lebende, alte, unfruchtbare Hennen verschmäht. Bei Gelegenheit habe ich hochdekorierte Jäger befragt und sogar einen Wildbiologen angeschrieben, den ich seit einer Reise durch die Kalahari kenne und der sich mit fuchsähnlichen Räubern wie dem Schakal und dem Fennek auskennt.
Immer die gleiche Frage: Fressen Füchse keine Hühner, die nicht mehr legen? Bestätigen mag zwar niemand, dass es so sein könnte. Aber es sagt eben auch niemand, es sei auf keinen Fall so oder völliger Unsinn. Grad so wie bei der Frage, ob Atlantis oder Erich von Dänikens Ausserirdische Wirklichkeit oder nur Legende sind oder ob es das Ungeheuer von Loch Ness tatsächlich gibt. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
Das Rätsel des alten Hühnerhändlers kann nicht gelöst werden.