Zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen gehört die Furcht vor den Bewohnerinnen und Bewohnern des Luzerner Hinterlandes, des wilden Westens des Kantons Luzern. Das sogenannte Luzerner Hinterland mit dem Tal der «Luthere» ist ein geheimnisvolles, dicht bewaldetes, hügliges Land, das sich hinter Willisau entlang der Kantons- und Konfessionsgrenze zwischen dem katholischen Luzern und dem reformierten Bernbiet über Eggen und Grate, durch Täler und Krächen im Herzen der Schweiz hinzieht.
«Katzenstrecker» wurden (und werden heute noch) die Bewohnenden des Luzerner Hinterlandes halb spöttisch genannt. Auf meine kindlichen Fragen, warum das so sei, wurde mir einst erklärt, im Luzerner Hinterland bringe man Katzen zur Strecke, um sie in der Pfanne zu braten. Das sei für diese armen Leute in dieser abgelegenen Gegend neben der Wilderei die einzige Möglichkeit, hin und wieder Fleisch auf den Tisch zu bekommen. Die geheimen Rezepte, wie das Katzenfleisch zu pfeffern und zuzubereiten sei, würden von Generation zu Generation mündlich überliefert. Was für Barbaren!
Jedes Mal, wenn ich ein Auto mit Luzerner Kontrollschildern auf Berner Boden sah, hatte ich Angst um unsere Hofkatzen und eilte von der Schule heimwärts, um die armen Tiere zu beschützen. Als in den frühen 1970er-Jahren ein paar Lausbuben aus dem bernischen Oberaargau in Luthern im Luzerner Hinterland während des Maskenballes im vollen Tanzsaal eine Tränengaspatrone zündeten (in der Art, wie sie im Militär verwendet wurden, um bei Übungen zu testen, ob die Gasmasken dicht sind), sah ich das noch Jahre später als Heldentat zur Ehre der reformierten Katzen. Es brach Panik im Saal aus, verletzt wurde Gott sei Lob und Dank niemand. Die Kommissare ermittelten trotzdem. Der Korporal, der die Patrone aus dem Dienst mitgebracht hatte, bekam eine saftige Arreststrafe. Er ist später trotzdem ein rassiger Offizier geworden.
Mein Misstrauen gegen Luzerner Autos legte sich erst viel später. Da bekam ich eine ganz andere Erklärung: Die Frauen, Männer und Kinder im Luzerner Hinterland seien «bsungerbar» gute, gottesfürchtige Leute. Die könne und solle ich mir zum Vorbild nehmen. Vor allem im Tal der «Luthere» (das an den Kanton Bern grenzt) seien alle «rüüdig» fromm und das Luthern Bad sei ein Wallfahrtsort, so «schampar» katholisch wie vielleicht sonst nur der Vatikan.
Der Name Katzenstrecker komme daher, weil in früheren Zeiten alle danach trachteten, einmal eine Wallfahrt nach Einsiedeln zu machen. Um die rund 90 Kilometer lange Strecke von Luthern nach Einsiedeln zu bewältigen, waren fast 20 Stunden Fussmarsch erforderlich. Auf dem Weg nach Einsiedeln seien alle über den Katzenstrick nach Einsiedeln gelangt.
Tatsächlich ist der «Chatzenstrick» ein Pass und Pilgerweg, der die Ortschaften Einsiedeln und Altmatt im Kanton Schwyz miteinander verbindet. Die Passhöhe liegt auf gut 1000 Metern Höhe. Von Einsiedeln kommend ist die Strasse heute bis zur Passhöhe durchgängig asphaltiert. Der Name rührt daher, dass der Übergang an einem steilen Weg liegt, «dessen Begehung die Behendigkeit einer Katze erfordert».
Strick ist eine in der schweizerischen Namenslandschaft häufige Bezeichnung für einen Weg oder Pfad. Die Frommen aus dem Tal der Luthern nahmen also für eine Wallfahrt nach Einsiedeln grosse Anstrengungen auf sich. «Katzenstrecker» sind daher die Frommen, die über den «Chatzenstrick» pilgerten.
Aber ist diese Geschichte auch wahr? Zufälligerweise habe ich später im Wörterbuch der Schweizerdeutschen Sprache, dem sogenannten «Idiotikon», dessen Ursprung auf das Jahr 1881 zurückgeht, einen Eintrag zum Begriff «Chatzenstrecker» gefunden. Und da lesen wir doch tatsächlich: «Chatzenstrecker heissen die Luzerner, weil sie pflegten, wenn sie durch fremde Orte zogen und Katzen erwischten, dieselben zu strecken und auszubalgen, um den Balg zu Mützen zu verwenden.» Es gebe sogar eine hölzerne Figur aus der Zeit der Freischarenzüge, die einen Luzerner darstelle, welcher mit den Füssen den Kopf einer Katze festhält und mit den Händen an ihren Hinterbeinen reisst.
Also noch eine neue Version: Die bernischen Katzen nicht in den Bratpfannen des Luzerner Hinterlandes. Sondern gemeuchelt, um Mützen aus ihnen herzustellen. Also doch Barbaren! Was stimmt nun? Ein noch grösserer Gegensatz zur gleichen Bezeichnung für die gleichen Menschen ist ja kaum denkbar: entweder der fromme Brauch der Wallfahrt nach Einsiedeln oder das barbarische Strecken und Ausbalgen armer, unschuldiger Tiere.
Ach, wem soll man glauben? Was ist Propaganda, was Wahrheit? Wenn es schon so schwierig ist, die Wahrheit vor unserer Haustüre zu erfahren, wie schwierig muss es dann draussen in der weiten Welt sein?
Inzwischen bin ich nicht einmal mehr sicher, ob beim Luzerner Wappen die blaue Farbe oben oder unten ist und ob der Bär auf dem Berner Wappen nach rechts Richtung Luzerner Hinterland oder nach links ins Welschland hinüberschaut.