Herzogenbuchsee hat etwas mehr als 7000 Bewohnende. Also kein Finanzplatz mit globaler Ausstrahlung wie Zürich. Und doch wäre uns der Untergang der «Credit Suisse» erspart geblieben, wenn die Lehren aus dem Untergang der lokalen Bank in diesem Dorf im Jahre 1913 gezogen worden wären. Es ist nicht notwendig, nach Zürich zu fahren oder nach New York zu fliegen, um Bankenkrisen zu verstehen. Eine Reise ins ländliche Herz der Schweiz nach Herzogenbuchsee bei Langenthal genügt.
Die Geschichte dieser Finanzdramen wirkt erstaunlich modern. Gehen wir mehr als 100 Jahre zurück in der Zeit. Herzogenbuchsee ist Ende der 1800er Jahre ein wichtiges, dynamisches wirtschaftliches Zentrum der bernischen Wirtschaft. 1861 wird die «Spar- und Leihkasse für den Handwerker- und Gewerbebestand des Amtsbezirkes Aarwangen», kurz «Spar- und Leihkasse Herzogenbuchsee» als Aktiengesellschaft gegründet.
Zwei schwere Krisen werden 1894 und 1903 durch Kapitalerhöhungen gut gemeistert. Lokale Investoren schiessen Geld ein, retten die Bank und werden Mitbesitzer (Aktionäre) des Institutes. Es scheint, als könne nichts die heile Finanzwelt in Herzogenbuchsee erschüttern. Aber 1910 kommt das bittere Ende: die Kantonalbank von Bern «schluckt» das Bankhaus und verhindert so einen Konkurs. Was war passiert?
Die Bank war in kurzer Zeit rasant gewachsen. Zwischen 1897 und 1909 stiegen die Kontokorrent-Debitoren von 352'000 auf 1,6 Millionen Franken, die Hypotheken von 660'000 auf 1,895 Millionen Franken. Die Spareinlagen wuchsen von 1,8 Millionen auf 4,4 Millionen Franken. Und das alles bei einem bescheidenen Eigenkapital von 300'000 Franken (Aktienkapital) und ausgewiesenen Reserven von 160'000 Franken.
Das Publikum wusste, dass dieses erstaunliche Wachstum nicht allein mit dem risikolosen, unspektakulären klassischen Hypothekar-Geschäft (Spargelder für lokale Hypotheken) zu erreichen war, und dass auch im grossen Stil Kredite an Industrie-Unternehmen vergeben wurden. Niemand war deswegen beunruhigt. Solange die Kundschaft der Bank die Fabriken, Geschäftshäuser und Läden tagtäglich vor sich sah, glaubte sie, nichts befürchten zu müssen. Was niemand im Dorfe wusste oder auch nur ahnte: Geld wurde nicht nur an heimische Unternehmer ausgeliehen.
Gegen Mitte Oktober 1910 publiziert die Kasse einen weiteren bäumigen Abschluss. Für das Geschäftsjahr 1909/1910 (der Rechnungsabschluss erfolgt jeweils per 1. Juli) werden 34'125 Franken Reingewinn und eine schöne Dividende (Gewinnausschüttung) an die Aktionäre von 5 Prozent gemeldet.
Gemäss dem offiziellen Untersuchungsbericht von Professor Dr. Ernst Wetter aus Zürich zum Untergang der Bank kippt die Stimmung, als die Uhrenfabrik Herzogenbuchsee – eine grosse Schuldnerin der Bank - ins Schwierigkeiten gerät. Nur ein paar Tage nach der Publikation des guten Geschäftsabschlusses ersucht der Verwaltungsrat die Kantonalbank von Bern wegen der drohenden Verluste bei der Uhrenfabrik um Hilfe. Die Kantonalbank betrachtet die Kasse als lästige Konkurrentin und plant seit längerem eine Filiale im aufstrebenden Herzogenbuchsee. Der Hilferuf des Verwaltungsrates – von dem die Öffentlichkeit vorerst nichts erfährt - eröffnet nun der Kantonalbank einen Einblick in die Bücher und die Ausarbeitung einer Übernahmeofferte.
Wahrscheinlich hätte die Bank die Krise sogar ohne Hilfe von aussen überstehen können. Aber die Probleme blieben nicht geheim. Bald einmal heisst es im Dorfe, die Bank habe noch andere riskante Geschäfte gemacht und nun setzt ein «Bankensturm» ein: die Sparerinnen und Sparer wollen ihr Geld abheben und in Sicherheit bringen. Nicht einmal die Regelung, dass ohne vorherige Kündigung nicht mehr als 100 Franken abgehoben werden können, vermag den Sturm zu bremsen. Am Donnerstag, den 10. November 1910, einem Markttag, müssen die Schalter mangels Bargeld geschlossen und den zuständigen Amtsstellen Insolvenz gemeldet werden.
Die Kantonalbank-Manager haben klug vorgesorgt: noch am gleichen Tag eröffnet die bernische Staatsbank eine Filiale und gewährt auf die Sparbüchlein der Spar- und Leihkasse Vorschüsse. So können dem Viehhandel die notwendigen Barmittel zur Verfügung gestellt und der Markttag doch noch gerettet werden.
Bei der Prüfung der Bücher kommen die Kantonalbank-Buchhalter zum Schluss, dass gut ein Drittel der gewährten Kredite als «faul» abgeschrieben werden müssen. Die Verluste durch die Uhrenfabrik Herzogenbuchsee sind in diesem Zusammenhang vergleichsweise unbedeutend. Mit einigem Erstaunen stellen sie fest, dass die meisten der verlorenen Kredite ohne Absicherung an ausserkantonale, ja gar ausländische Firmen vergeben worden sind.
Der Verwaltungsrat lehnt jedoch das Übernahmeangebot der Kantonalbank ab. Die Politik schaltet sich ein. Herzogenbuchsee will seine eigene Bank unbedingt behalten. Erneut soll eine Aktienkapital-Erhöhung die Rettung bringen. Aber das Vertrauen ist erschüttert. Trotz intensivster Bemühungen, auch durch den Gemeinderat, gelingt es nicht, lokale Investoren oder Private für eine Kapitalerhöhung zu finden und der Bankensturm legt sich nicht. Die Sparerinnen und Sparer trauen der Sache nicht mehr. Die Übernahmeofferte der Kantonalbank wird schliesslich zähneknirschend angenommen. Die Spareinlagen können gerettet werden, die Aktionäre verlieren durch die Übernahme rund 25 Prozent und am Ende bliebt die Kantonalbank auf rund einer Million fauler Kredite sitzen.
Die Untersuchungen ergeben krasses Versagen des Direktors und des Verwaltungsrates. Im offiziellen Untersuchungsbericht von Professor Dr. Ernst Wetter lesen wir unter anderem (Wiedergabe auszugsweise):
«Die Gründe des Eingehens der Spar- und Leihkasse Herzogenbuchsee liegen in erster Linie in der mangelhaften Leitung eines banktechnisch nicht auf der Höhe stehenden Direktors und der ungenügenden Beaufsichtigung durch eine ihrer Aufgabe nicht gewachsenen Verwaltungsbehörde (Verwaltungsrat – die Red.). Sachlich zeigten sich diese Mängel im Eingehen von Risiken und im Abschluss von Geschäften, von denen eine ländliche Sparkasse im Umfange derjenigen von Herzogenbuchsee ihre Hand lassen sollte.
Einem vorsichtigen Direktor hätte doch gewiss einleuchten müssen, dass Geldgesuche aus Städten, wo zahlreiche Bankinstitute bei genügender Sicherheit gerne ein Geschäft gemacht hätten, mit doppelter Vorsicht zu prüfen waren. Diese Geschäfte mussten doch zum vornherein den Verdacht erwecken, dass sie bereits von anderen Banken eine Abweisung erfahren hatten und dass, wenn sie nicht irgendeinen Haken hätten, diese Leute wohl kaum nach Herzogenbuchsee gekommen wären.
Sicher ist, dass die Spar- und Leihkasse, wenn sie sich gemäss ihrem Charakter und ihrer Zweckbestimmung auf ihr spezielles Arbeitsgebiet, Herzogenbuchsee und Umgebung, beschränkt hätte, niemals in diese fatale Situation geraten wäre. Zum Beweis mag die Tatsache dienen, dass die Geschäfte aus Herzogenbuchsee und Umgebung, mit Ausnahme von zwei industriellen Engagements, im Allgemeinen genügend abgesichert sind, dass hingegen die meisten ausserkantonalen Geschäfte als mehr oder weniger zweifelhafter Natur bezeichnet werden müssen. Entschuldbar wäre es höchstens gewesen, wenn das Institut über genügend eigene Mittel verfügt hätte.
Die eigenen Mittel erreichten aber kaum die Summe von 500'000 Franken, eine Summe, die einzig in zwei bis drei grossen Krediten sozusagen auf eine Karte gesetzt wurde, während die übrigen, zum Teil sehr gewagten Anlagen, aus fremden Geldern oder den Einlagen der kleinen Sparer aus Landwirtschaft und Kleingewerbe verwendet wurden, die dem Institut ein unbegrenztes Vertrauen entgegenbrachten.
Direktor und Verwaltungsrat scheinen sich ihrer Verantwortung nicht bewusst gewesen zu sein. Die Gewährung der grossen Blankokredite bildeten eine Statutenverletzung. Der Direktor, der schon seit 27 Jahren an der Spitze der Bank stand und der Präsident des Verwaltungsrates fanden es vielfach nicht einmal der Mühe wert, dem Gesamtverwaltungsrat gerade von den grössten und riskantesten Geschäften Mitteilung zu machen, und die Verwaltungsräte ihrerseits erachteten es ebensowenig als notwendig, sich um die Geschäfte der Kasse näher zu kümmern. Kassarevisionen fanden höchstens einmal im Jahr statt. Bei der Prüfung der Bücher durch die Kantonalbank wurde per 31. Oktober 1910 ein Kassenbestand von 71'388 Franken und 10 Rappen ausgewiesen. Tatsächlich befanden sich nur noch 16'000 Franken in den Kassen.
Ein Überschreiten des natürlichen Rayons, verbunden mit einer unkaufmännischen Führung des gesamten Betriebes und einer mangelhaften Beaufsichtigung durch den Verwaltungsrat sind die Hauptgründe für den Zusammenbruch.»
Weder der Direktor noch der Verwaltungsrat sind damals in Herzogenbuchsee zur Verantwortung gezogen worden. Vor allem, weil die Kantonalbank ja die Spareinlagen sicherte und so ein Aufkommen des Volkszornes verhinderte. Alles in allem ging die Sache also noch glimpflich aus. Es entbehrt nicht einer gewissen geschichtlichen Ironie, dass nicht ganz hundert Jahre später die Kantonalbank aus den exakt gleichen Gründen in eine schwere Krise geriet.
Zu Beginn der 1990er Jahre ging die Staatsbank unter der Führung des autoritären und charismatischen Direktors Kurt Meier zu grosse Risiken in ausserkantonalen Geschäften ein – u.a. als «Hausbank» für den Milliarden-Betrüger Werner K. Rey, der mit Meier per Du war – und musste schliesslich vom Kanton mit insgesamt 1,45 Milliarden Franken Steuergelder gerettet werden.
Die Aufsichtsorgane hatten versagt. Hätte man sich an die Spar- und Leihkasse Herzogenbuchsee erinnert, die man einst gerettet hatte, wäre es nicht zur grossen Kantonalbank-Krise gekommen und der «Fall Rey» wäre den Bernern erspart geblieben.
Aus dem Monatsmagazin «WURZEL»
Übrigens, die verantwortlichen Hochstapler und Blender leben noch heute in Saus und Braus in bester Lage am Thunersee. Zum 🤮