Es ist ein Freitag im Juli, als sich ein älteres Ehepaar auf den Weg zu einer Bankfiliale in Kreuzlingen macht, um mehrere Hunderttausend Franken abzuheben. Vor wenigen Tagen hat ein vermeintlicher Polizist des deutschen Bundeskriminalamts dem 81-jährigen Mann am Telefon erzählt, es werde gegen Banken ermittelt, das Vermögen sei in Gefahr. Der Polizist forderte den Mann auf, Bargeld abzuheben und es zur Sicherheit der Behörde zu übergeben.
Doch Angehörige des Ehepaars schöpften Verdacht. Die Kantonspolizei Thurgau eilte zur Bankfiliale, klärte das Paar auf und vereitelte den Betrug. Die Ermittlungen laufen.
Trotz umfangreicher Präventionsmassnahmen und medialer Dauerpräsenz des Phänomens gelingt es Telefonbetrügern immer noch, mit Fantasiegeschichten ältere Menschen um Zehntausende Franken zu prellen. Wie ist das möglich? Und in welchen Kantonen sind die Betrügerbanden aktuell besonders aktiv? CH Media hat alle Kantonspolizeien der Schweiz um Auskunft gebeten zur Entwicklung in den letzten Jahren. Die Antworten ergeben ein differenziertes Bild.
Praktisch alle Westschweizer Kantone verzeichnen im laufenden Jahr einen markanten Anstieg des Phänomens. Die Kantonspolizei Waadt registrierte bis Ende Mai 606 Fälle, wobei die Täter 161-mal erfolgreich waren. Nach einer Anrufswelle im April verhaftete die Polizei fünf Verdächtige. Deren ältestes Opfer war 101 Jahre alt. Der Kanton Wallis wird von einer Welle überrollt. Allein zwischen dem 11. und 15. Mai registrierte die Polizei sieben neue Versuche, bei denen die Täter insgesamt 40’000 Franken ergaunerten.
Zunächst: Nicht alle Kantone führen eine separate Statistik zum Telefonbetrug, auch die Art der Erhebung unterscheidet sich. Je etwa die Hälfte der Kantone berichtet von gleichbleibenden und abnehmenden Zahlen. Im Kanton Zürich zum Beispiel erschlichen sich Täter im Jahr 2023 in 188 Fällen insgesamt 5,9 Millionen Franken. Über aktuellere Zahlen verfügt die Kantonspolizei nicht. Die Betrügereien hätten sich etwa auf dem Niveau von 2023 eingependelt.
Offenbar. «Die einst stark verbreitete Telefonbetrugsmasche des falschen Polizisten hat stark an Bedeutung eingebüsst», sagt Bernhard Graser, Sprecher der Kantonspolizei Aargau. 2023 registrierte die Polizei 1288 Betrugsversuche, 2024 waren es weniger als halb so viele, in diesem Jahr bis jetzt 131. Auch in Bern, Schaffhausen und anderen Kantonen zeigt die Tendenz klar nach unten.
Sie haben eine Arbeitsteilung. Die Zentralen mit den Callcentern befinden sich meist im Ausland, in Frankreich, Belgien oder Polen und der Türkei. Die Betrüger durchforsten Telefonbücher nach altertümlich klingenden Namen. Sie heuern lokale Geldabholer an, die das Diebesgut an Drittpersonen weitergeben. Dort wird das Geld gewaschen und auf undurchsichtigen Kanälen zu den Auftraggebern transferiert.
«Nicht alle Geldabholerinnen und -abholer wissen anfangs, was sie eigentlich in Wirklichkeit machen. Sie sind oft der Meinung, ja nur ein Couvert respektive ein Paket abzuholen, so wie im ‹Arbeitsvertrag› vereinbart», sagt Milo Frey, Sprecher der Kantonspolizei St.Gallen.
Die Kantonspolizei Graubünden schnappte in diesem Frühjahr vier Geldabholer. Die Männer wurden per Inserat angeheuert. Ihre «Arbeitgeber» versprachen für Aufgaben wie Medikamenten- und Eilkurierdienste hohe Löhne – bei angenehmen Arbeitszeiten und beschränkten Qualifikationen (Fahrausweis und eigenes Auto).
Es ist schwierig, die Köpfe der kriminellen Organisationen ausfindig zu machen, weil sie vom Ausland aus operieren. Oft arbeiten sie mit manipulierten Telefonnummern; so erscheint bei den Opfern etwa die echte Nummer der Polizei auf dem Display. Immerhin: In den letzten Monaten haben die Polizeien in der Schweiz regelmässig Verhaftungen vermeldet. Und erst Mitte Juli hat das Berner Wirtschaftsgericht einen 53-jährigen Telefonbetrüger aus Polen zu 15 Monaten (unbedingt) verurteilt.
Er geht auf das Konto der Kantonspolizei Tessin. Sie hat in Zusammenarbeit mit den polnischen Behörden ein Netzwerk zerschlagen. Gegen Ende letzten Jahres wurden in Polen zwei Männer und drei Frauen im Alter von 27 bis 67 Jahren verhaftet. Zuerst machten die Ermittler das Callcenter in Polen aus, dann klickten die Handschellen. Am Ursprung des Fahndungserfolgs steht die Verhaftung eines Polen im Dezember 2023. Er nahm in der kriminellen Organisation eine Schlüsselrolle ein. Nachdem sie aufgeflogen war, sank im Tessin die Zahl der Telefonbetrugsversuche drastisch.
Ja. Zum Beispiel im September 2023 starteten die Schweizerische Kriminalprävention (SKP) und die kantonalen und städtischen Polizeikorps eine landesweite und zweieinhalbmonatige Kampagne. Seit Jahren warnt die Polizei auf allen Kanälen vor dem Phänomen. Es werden an verschiedenen Orten Flyer aufgelegt, mit älteren Personen als Zielgruppe. Regelmässig führen die Polizeien – auch mit Unterstützung von Organisationen wie Pro Senectute – Präventionsveranstaltungen durch.
Die Genfer Polizei schickte in diesem Frühling an alle 92’000 Rentnerinnen und Rentner des Kantons ein Warnschreiben. Die St. Galler Kantonspolizei versandte vor zwei Jahren 100’000 Präventionsbriefe. Die Polizeien sind sich einig: Die Präventionsbemühungen tragen Früchte. Ein Beispiel: 2024 verzeichnete der Kanton Tessin 400 Betrugsversuche. Nur elf waren erfolgreich, und sechs Personen wurden verhaftet. Experten gehen allerdings von einer hohen Dunkelziffer aus.
«Die Täter agieren äusserst professionell und sind psychologisch geschult», sagt Frank Kleiner, Sprecher der Zuger Polizei. Sie tischen eine glaubhafte Geschichte auf und setzen die Opfer unter Zeitdruck. Oft würden Hilfsbereitschaft, Verantwortungsbewusstsein oder die Autoritätsgläubigkeit der Seniorinnen und Senioren ausgenutzt, sagt Florian Frei von der Kantonspolizei Zürich.
Die Betrüger haben Ausdauer. Im April verwickelte ein angeblicher Europol-Ermittler eine 59-jährige Frau aus dem Kanton Zürich in ein sechsstündiges Gespräch, bis sie ihm rund 50’000 Franken auf ein Kryptokonto überwies. Drei Tage danach schaltete das Opfer die Polizei ein. Sie konnte das Geld aufspüren und auf das Konto der Geschädigten zurücktransferieren.
Es gibt auch Opfer, welche die Masche kennen, aber im Moment des Telefonanrufs in eine Art Schockstarre fallen, etwa bei sogenannten Schockanrufen. In dieser Betrugsvariante täuschen falsche Polizisten oder Staatsanwälte zum Beispiel vor, ein Familienmitglied habe etwas Schlimmes gemacht, etwa einen schweren Unfall verursacht, und komme nur gegen eine sofort zu zahlende Kaution frei.
Manchmal modifizieren die Betrüger ihre Märchengeschichten in Windeseile. Am 22. März reagierte eine 83-jährige Genferin zunächst richtig: Nein, es kommt nie ein Polizist nach Hause, um Bankkarten abzuholen. Daraufhin nahm die Polizei zwei Verdächtige fest. Am Abend kontaktierte die Bande die Frau erneut. Jetzt gab sich eine Person als jener Polizist aus, der in der Sache ermittelt. Er sagte, sie solle einem Komplizen der Bande Bankkarte und Schmuck aushändigen, damit er in flagranti verhaftet werden könne. Der perfide Trick funktionierte.
Häufig schämen sich die Opfer nach dem Reinfall und melden sich deshalb gar nicht bei der Polizei. Ein Beispiel: Die Zürcher Stadtpolizei fasste im letzten Jahr einen Syrer, der in seiner Wohnung Bargeld im Wert von einer Million Franken aus Telefonbetrug hortete. Das Bezirksgericht Zürich verurteilte ihn vor kurzem zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe wegen Geldwäscherei. Die Million fliesst in die Staatskasse; es konnten keine Geschädigten ausfindig gemacht werden. (aargauerzeitung.ch)
Wer wirklich etwas will, soll auf den Anrufbeantworter reden oder einen Brief schreiben!