Der Zug hält am Bahnhof Ulrichen nur auf Verlangen. Der Walliser Ort ist klein und häufiger Durchgangsort für die Reise über die nahen Alpenpässe, als Ferienziel. An diesem Wochenende ändert sich das schlagartig. Es werden hier so viele Pfadis eintreffen, dass Ulrichen in Sachen Einwohnerzahl zur Kantonshauptstadt Sitten aufschliesst. Nach vierzehn Jahren Warten findet diesen Sommer wieder ein Bundeslager statt. Wegen Corona ein Jahr später als ursprünglich geplant. 30'000 Teilnehmende aus der ganzen Schweiz und einige internationale Gäste campen für zwei Wochen auf dem Gelände eines alten Flugplatzes am Dorfrand.
Kaum ist man aus dem Zug, dominiert schon jetzt, vor Beginn des eigentlichen Lagers, die Pfadi. Militärblachen verströmen den Geruch nach Keller, Camping und Abenteuer. Die jungen Frauen und Männer, die sich hier kreuzen, tragen bunte Pfadi-Krawatten und grüssen sich bei ihrem Pfadinamen.
Die 31-jährige Zürcherin Dagmar Püntener nennt man hier Chaja. Der 30-jährige Oltner Mischa Kaspar heisst Monti. Sie sind schon seit zwei Wochen «auf Platz», wie es Monti ausdrückt, und daran, alles für die grosse Ankunft vorzubereiten. «Ich freue mich auf die Kinder, aber geniesse auch die etwas ruhigere Zeit mit den älteren Pfadis vor dem Lager», sagt Chaja, die für das Bundeslager ihr Arbeitspensum als Projektleiterin bei einem Jugenddachverband reduzierte. Monti, der beruflich bei der Stiftung Myclimate Jugendliche für Umweltthemen sensibilisiert, findet es gut, dass sich nun zeigt, wofür er und 500 andere Pfadis in den letzten Jahren gearbeitet haben.
Chaja und Monti haben eine knifflige Aufgabe. Sie leiten zusammen den Bereich Umwelt, sind also verantwortlich dafür, dass der Lagerplatz, der sich über zwei Stationen der Matterhorn-Gotthardbahn erstreckt, nach dem Abzug der Pfadis wieder gleich aussieht wie vorher. «Wir Pfadis wollen Sorge tragen zur Natur und allem Leben», so heisst es im Pfadigesetz. Ein gar nicht so einfach einzuhaltendes Versprechen bei einem Anlass, der über die Zeit von zwei Wochen 35'000 Teilnehmende (gleichzeitig bis zu 30'000) erwartet. Nicht alle Bewohner der Region waren begeistert, als sie vom Grossaufmarsch hörten. Einzelne sorgen sich um Böden, Wiesen und Wasser.
Wie schwierig die Aufgabe von Chaja und Monti ist, lässt ein Rundgang auf dem Gelände erahnen. Weil das Gelände weitläufig ist, haben die beiden ihr Velo dabei. Vor einer Wiese steht eine gewaltige Bühne, wie man sie von Open-Air-Konzerten kennt. Hier sollen Begrüssung, 1. August und Abschied zelebriert werden. Ein junger Mann ist hoch oben auf einer Hebebühne gerade dabei, eine Fahne aufzuhängen. Chaja und Monti können einen Erfolg verbuchen. Die ausfahrbaren Stützen des schweren Arbeitsgeräts stehen auf hölzernen Unterlagen. So wird das Gewicht der Maschine verteilt und der Boden geschont.
Unweit der Bühne, in einer 3400 Quadratmeter grossen Lagerhalle, türmen sich palettenweise Konfitürengläser. 350 Tonnen Lebensmittel werden vor und während des Lagers angeliefert. Der Kühlbereich wird mit Wasser aus der Rhone gekühlt. Darauf sind Monti und Chiara sichtlich stolz. Auch wenn die beiden stets betonen, dass alles im Team erarbeitet wurde. Typisch Pfadi.
Ein paar Schritte weiter in einer Containerkonstruktion befinden sich die Duschen. Der Gebrauch ist streng reglementiert. Auf eine Minute Annetzen folgen zwei Minuten Einseifen. Dann läuft das Wasser noch einmal für zwei Minuten zum Abspülen. Einmal pro Woche dürfen die Kinder sich dort waschen. So sparen die Pfadis Wasser und verkürzen die Schlangen vor den Duschen. Sollte die Trockenheit noch weiter anhalten, könnte das Duschen noch strenger geregelt werden.
Zur Erfrischung lädt auch der Geschinersee. Das kleine, längliche Gewässer am südlichen Ende des Lagerplatzes bereitete unseren Umweltverantwortlichen Kopfschmerzen. Schwämmen 30'000 Pfadis einfach so darin, würde sich an der Wasseroberfläche ziemlich schnell ein Film aus Sonnencreme bilden. Den Kindern wird darum eingeschärft, sich erst nach dem Baden einzucremen. Es ist ein schwieriges Abwägen zwischen Sonnen- und Umweltschutz. Der Zugang zum See ist zudem eingeschränkt. Nur zu gewissen Zeiten und unter Aufsicht von Rettungsschwimmern dürfen die Pfadis in den See.
Weiter hinten ragt ein Holzturm mit Aussichtsplattform in die Luft. Von oben sieht man die Dimensionen des Mega-Pfadilagers. Pavillon reiht sich an Festzelt, Containerbauten an Holz- und Blachenkonstruktionen. Die Wiesen um das alte Flugfeld sind mit Holzpflöcken abgesteckt, damit am Samstag jede Gruppe weiss, wo sie ihre Zelte und ihre eigene Lagerküche aufstellen können. Auf offenem Feuer kochen liegt allerdings nicht drin. Waldbrandgefahr. Die Pfadis müssen auf Gaskocher ausweichen.
Nach einem Rundgang auf dem Gelände fragt man sich: Passt dieser Campingplatz mit strengen Regeln und eng getaktetem Duschplan eigentlich noch zur Vorstellung von Freiheit der Pfadis weit weg von den Eltern? Ist dieser Grossevent mit Unterstützung der Armee, der SBB, der Post, der Migros und von Versicherungen noch ein Pfadilager? «Anarchie herrscht hier nicht, Freiheit schon», sagt Monti und spricht von Verantwortung und Umsetzbarkeit. Der Anlass finde nur alle 14 Jahre statt und sei kein normales Pfadilager. Es brauche pragmatische Lösungen, auch wenn das heisst, dass nicht mehr alle Pfadiklischees erfüllt würden.
Jetzt sehe es zwar noch nicht so aus, sagt Chaja: «Wenn dann aber die Kinder kommen, wird hier das Pfadigefühl auf jeden Fall aufkommen.» Jede Gruppe kann ihren eigenen kleinen Lagerplatz gestalten und sich dort austoben. Bis dahin fahren Chaja und Monti weiter über den Platz und wachen mit ihrem Team über die Einhaltung des Pfadigesetzes: Sorge tragen zur Natur und allem Leben. (aargauerzeitung.ch)
Man kann nicht 30'000 Menschen 2 Wochen lang auf ein Feld setzen, ohne gigantische Spuren zu hinterlassen.
Auch nicht, wenns eine Pfadi ist.
Einmal in der Woche duschen? Das ist jetzt wirklich nicht angenehm, gerade in diesem Alter fangen die Ausrüstungen richtig an, egal ob man schwimmen geht oder nicht. Was dieser Giga-Anlass mit der ursprünglichen (naturverbundenen) Idee zu tun hat weiss ich nicht.