Unsere repräsentative Umfrage und die Erfahrungen von Bar- und Clubbetreibenden zeigen deutlich: Die Menschen, insbesondere die Jungen, trinken weniger Alkohol als früher. War diese Entwicklung in der Vergangenheit auch schon einmal zu beobachten?
Jörg Rössel: Wenn man den Alkoholkonsum in der Schweiz anschaut, ist kein lineares Muster zu erkennen.
Das heisst?
Bereits im 19. Jahrhundert gab es Zeiten, in denen die Menschen in der Schweiz mehr und dann später wieder weniger Alkohol konsumierten. Seit dem Zweiten Weltkrieg zeigt sich: Der Alltagskonsum von Alkohol hängt mit steigendem Wohlstand zusammen. Bis heute sind alkoholische Getränke in der Regel nicht günstig.
Wie erklären Sie sich den Rückgang in den letzten Jahren?
Der aktuell am meisten diskutierte Faktor ist das gestiegene Gesundheitsbewusstsein. Die Lebensstile vieler Menschen verändern sich. Beim Rauchen ist diese Entwicklung bereits früher eingetreten. Für die Jüngeren unter uns ist es vollkommen normal, dass man in Bars und Clubs nicht mehr rauchen darf.
Die Sensibilität gegenüber Alkohol hat sich also verändert. Weshalb?
Das hängt eng mit der Wissenschaft zusammen.
Bis vor zehn, fünfzehn Jahren waren sich viele Forschende einig, dass ein Glas Rotwein pro Tag doch ganz gesund ist. Heute herrscht weitestgehend Konsens darüber, dass selbst kleinste Mengen Alkohol gesundheitsschädlich sind. Insbesondere bei jüngeren Menschen, deren Gehirn noch nicht vollständig entwickelt ist.
Hat die Covid-Pandemie das gestiegene Gesundheitsbewusstsein beeinflusst? Weil man gesehen hat, dass die eigene Gesundheit nicht selbstverständlich ist?
Bei dieser Schlussfolgerung wäre ich zurückhaltend. Wenn dem so wäre, müsste man in den Daten ja einen klaren Bruch bezüglich Alkoholkonsum sehen. Sie haben in Ihrer Umfrage aber auch den Bar- und Club-Besuch abgefragt. In diesem Punkt hat die Pandemie viel eher eine Rolle gespielt, so meine Einschätzung.
Zwei Drittel der 16- bis 30-Jährigen gehen höchstens einmal pro Monat in eine Bar oder einen Club. Über alle Alterskategorien hinweg beträgt der Wert sogar 83 Prozent. Inwiefern könnte Covid dieses Verhalten beeinflusst haben?
Gerade die jüngeren Menschen, das häufigste Bar- und Club-Publikum, wurden in den entscheidenden Phasen da nicht so stark rein sozialisiert. Sie haben in den zwei, drei Jahren während der Pandemie gar nicht richtig mitbekommen, was es heisst, in Bars und Clubs zu gehen. In einer entscheidenden Phase war es ihnen nicht möglich, ihren Neigungen nachzugehen. Das spüren die Bar- und Club-Betreibenden heute.
Gibt es weitere Gründe, die das Ausgehverhalten speziell von jüngeren Menschen erklären können?
Ein nicht ganz unwichtiges Motiv für jüngere Clubgänger ist es, neue Leute kennenzulernen. Sei dies für kurzfristige, unverbindliche Kontakte, aber auch längere Partnerschaften. Aufgrund von digitalen Datingportalen könnten Clubs diese Funktion bis zu einem gewissen Grad verloren haben. Das ist auch eine Zeitfrage.
Wieso eine Zeitfrage?
In Clubs zu gehen, braucht Zeit. Wenn man frühmorgens und möglicherweise alkoholisiert nach Hause kommt, ist meist auch der nächste Tag nicht mehr für viel zu gebrauchen. Hinzu kommt, dass gerade junge Leute einen grösseren Teil ihrer Freizeit online verbringen, am Handy, mit Netflix etc. Diese Konkurrenzangebote gab es vor 15 Jahren noch nicht.
Gibt es weitere Faktoren?
Ein weiterer Punkt ist Sport. Ich habe die letzte Umfrage des Bundesamtes für Sport angeschaut. Sie zeigt deutlich: Die Menschen werden immer sportlicher. Junge Leute denken heute schon früher an gute Jobs, sie fokussieren sich daher auf ihre Lehre, auf das Studium, auf den Arbeitsplatz. All diese Dinge brauchen Zeit, die im Umkehrschluss nicht mehr für Bar- und Clubbesuche zur Verfügung steht.
Die Aussenwirkung hat heute eine ganz andere Dimension als vor einigen Jahren.