Die erste Panikattacke kam nachts. Ich lag neben meiner Freundin im Bett und hatte Todesangst. Ich konnte nicht mehr atmen, spürte einen Druck auf der Brust, als hätte sich jemand auf mich gesetzt. Mir war kalt und heiss zugleich, ich schwitzte. Ein Gefühl der Ohnmacht, das mich in der Dunkelheit ansprang und sich an mir festbiss. Da wusste ich: So kann es nicht weitergehen.
Ich dachte ständig an die Schule. An unerledigte Arbeiten, Elternbriefe, den Unterrichtsstoff. Und vor allem an die Schülerinnen und Schüler. An den einen Buben, ein aufgewecktes, lustiges Kind und im Grunde clever. Der aber nicht gut Deutsch sprach. Gerade hatte er eine Deutscharbeit so richtig verhauen. Ich musste ihm eine ungenügende Note geben. Obwohl ich wusste, dass er enorme Fortschritte gemacht hatte und sich wirklich anstrengte. Als ich ihm die korrigierte Prüfung zurückgab, sah ich seinen enttäuschten Blick und den kleinen Körper, der in sich zusammensackte.
Eigentlich wählte ich diesen Beruf, weil ich es nicht so machen wollte wie meine Gymi-Lehrer. Die waren teilweise so abgebrüht und fies. Sie drangsalierten Schülerinnen, stellten sie bloss, wenn sie das Latein-Voci nicht aufsagen konnten. Indem sie die Jugendlichen unter Druck setzten, nahmen sie ihnen jegliche Lust zu lernen. Was fatal war. Und unglaublich schade.
Während der Ausbildung sagte man uns, dass Lehrer besonders gefährdet sind, an einem Burn-out zu erkranken. Weil der Job emotional belastend ist und man vollständig auf sich allein gestellt ist. Ich sah damals noch nicht, wie vielschichtig und komplex dieser Beruf ist. Als Klassenlehrperson bist du der Dreh- und Angelpunkt für alles. Du bist Ansprechperson für 20 Kinder und deren Eltern. Du bist nicht nur Pädagoge, sondern auch Freund, Psychologe, Sekretär und natürlich Arschloch, wenn mal etwas schiefläuft.
Während der ersten Zeit war zwar alles überfordernd, aber auch toll. Ich war super enthusiastisch, voller Energie. Ich hatte viele Ideen und war kreativ, habe mir überlegt, wie ich den Lehrstoff spannend und für alle ansprechend gestalten kann. Aber schon bald häuften sich die Momente, in denen ich mich gefragt habe: Warum bin eigentlich ich für jeden Tubel-Job zuständig?
Eine Ärztin hat ein Sekretariat, das die Anrufe entgegennimmt und die Termine verwaltet. Sie hat medizinische Praxisassistenten, die das Blut abnehmen und die Röntgenaufnahme machen. Sie kann auf Personal zurückgreifen, das ihr unter die Arme greift, damit sie sich auf ihre Kernkompetenz, die medizinische Behandlung ihrer Patienten, fokussieren kann. Doch als Lehrer machst du alles selbst. Ich organisierte den Schulpsychologen, schrieb und verschickte den Elternbrief. Sorgte dafür, dass dieser auch wirklich Zuhause ankam. Organisierte eine Übersetzerin, verwaltete die Adressliste der Kinder, plante, organisierte und führte Klassenreisen durch. Und so weiter. Eine enorme Mehrfachbelastung.
Dann das Benotungssystem: Die Leistung eines Kindes zu bewerten ist wahnsinnig komplex und eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Da gäbe es ja ganz viele Faktoren, die man einbeziehen müsste. Wie sind die Voraussetzungen der Schülerin? Wie verhält sie sich im Unterricht? Gibt sie sich Mühe? Hat sie sich verbessert? Erhält sie Unterstützung von zu Hause? Letztlich fallen diese Faktoren aber nicht ins Gewicht. Stattdessen nimmst du eine Bewertung vor, die im Verhältnis mit der Gesamtleistung der Klasse stehen muss.
Das Schulsystem ist nicht dafür gemacht, jedes Kind einzeln zu fördern. Das Ziel ist, möglichst vielen Kindern den Schulstoff zu vermitteln und aus ihnen gute Bürgerinnen und Bürger zu formen. Ihnen eine gewisse Kultur und gewisse Werte weiterzugeben, damit sie in ihrem späteren Leben ihren Platz in der Gesellschaft finden. Ich möchte nicht pauschal sagen, dass das Schulsystem schlecht ist. Es ist gut – für 80 bis 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler.
Die 10 bis 20 Prozent, die durch die Maschen fallen, sind ein für das System akzeptabler Kollateralschaden. Doch mir brachen sie das Genick. Ich riss mir den Arsch auf, um jedes einzelne Kind in meiner Klasse so gut es ging zu unterstützen. Gleichzeitig musste ich aufpassen, den Rest der Klasse nicht zu vernachlässigen. Ein Balanceakt, der zum Scheitern verurteilt war. Am Schluss war es trotzdem so: Die Kinder, die nicht mit dem Stoff mitkamen, entglitten mir. Das beelendete mich.
Zu Hause konnte ich nicht abschalten. Ich war genervt, stritt mich mit meiner Freundin. Die erste Panikattacke war ein Weckruf. Nachdem ich einige Wochen krankgeschrieben war, nahm ich mir vor, mich emotional mehr von dem Wohlergehen der einzelnen Schülerinnen und Schüler zu distanzieren. Das gelang mir auch einigermassen. Die Kinder waren mir egaler und mir ging es psychisch besser.
Doch auf die Dauer funktionierte das nicht. Denn ich wollte ja auf die Kinder eingehen, ihnen helfen, für sie da sein. Ich war hin- und hergerissen: Machte ich meinen Job so, wie ich es gut fand, wurde ich krank. Achtete ich hingegen auf meine Gesundheit, konnte ich kein guter Lehrer sein. Ich fühlte mich als Mittäter dieses Systems. Es war nicht das System, das die Kinder fertigmachte, sondern das System machte es durch meine Hand. Ich war derjenige, der es ausführte.
Es gibt Lehrpersonen, die das gut machen. Die eine Balance finden, sich distanzieren können. Ich konnte es nicht. Darum musste ich gehen. Heute arbeite ich als IT-Spezialist in einem grösseren Unternehmen. Ich bereute meine Entscheidung keine Sekunde. Und lese ich die Nachrichten über den derzeitigen Lehrermangel, wundert mich das ganz und gar nicht.
Dass jetzt Leute rekrutiert werden, die quer in den Job einsteigen, finde ich beunruhigend. Sie gehen in einen multifaktoriellen Job, von dem sie keine Ahnung haben. Dank meiner Ausbildung hatte ich damals immerhin noch ein paar Tools, die ich anwenden konnte. Doch einfach so ins kalte Wasser geworfen zu werden – das kann nicht gut kommen. Viele werden da schnell wieder ausgespült. Und einige werden verbrennen, so wie ich.
Ich finde es etwas sehr Bereicherndes, mit Kindern zu arbeiten. Ich war lange Pfadileiter und habe diese ehrliche Unbeschwertheit, das kindliche Glück, die Neugierde immer als etwas sehr Wertvolles empfunden. Trotz allem hat sich das nie geändert. Ich finde Kinder nach wie vor toll. Aber ich schaffte es einfach nicht, mir den Job innerhalb dieser starren Strukturen so einzurichten, dass es für meine Schüler und auch für mich gut war. Ich wurde meinem Anspruch, ein guter Lehrer zu sein, nicht gerecht. Das machte mich immer verbitterter, zorniger, müder, gleichgültiger. Am Schluss war ich so, wie ich nie hatte werden wollen.
(Eigentlich sollte er eine zeitlang auf den Titelseiten aller Zeitungen und zuvorderst in allen Nachrichtensendungen kommen.)
Er zeigt in Kürze, wie ungesund in seinen Fundamenten unser Bildungssystem ist. Es geht hier nämlich nicht darum, jedem Menschen seinen besten Weg möglich zu machen, sondern alle in ein System zu zwängen.
Das ist zwar das Negative betont. Aber im Gegensatz zu allen anderen Branchen ist das Bildungswesen in viel zu vielem steckengeblieben, teils noch im 19. Jahrhundert.
Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen sähe es anders aus.