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War Alstom erst der Anfang? – In der Industrie ist kein Ende des Stellenabbaus in Sicht

Die Fabrik der Alstom in Birr – dieser Standort bleibt erhalten.
Die Fabrik der Alstom in Birr – dieser Standort bleibt erhalten.
Bild: KEYSTONE

War Alstom erst der Anfang? – In der Industrie ist kein Ende des Stellenabbaus in Sicht

Der US-Konzern General Electric hat nach der Übernahme von Alstom nun 1300 Stellen im Kanton Aargau gestrichen. Die Anpassung an den Frankenschock ist nicht abgeschlossen. In der Industrie ist noch kein Ende des Stellenabbaus in Sicht.
14.01.2016, 05:1914.01.2016, 06:28
Tommaso Manzin, Roman Seiler / Aargauer Zeitung
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1300 auf einen Streich. Auf einen Schlag werden bei der vom US-Konzern General Electric (GE) übernommenen Alstom im Kanton Aargau 1300 Stellen gestrichen. Der überraschend hohe Abbau schürt Ängste vor weiteren bösen Überraschungen. Seitens der Politik gibt man sich schon zufrieden, dass die Standorte Baden, Birr, Dättwil, Turgi und Oberentfelden beibehalten werden.

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Es gibt gewiss branchenspezifische Gründe für den Kahlschlag. Zu den Sorgen des Energiesektors gehört gerade der Bereich Gas- und Dampfkraft. In der Pressemitteilung weist GE denn auch ausdrücklich darauf hin. Das Unternehmen bestätigt, dass der Wärmekraftwerkmarkt massiv geschrumpft sei.

Preis der Globalisierung

Es gibt aber auch unmittelbar mit General Electric zusammenhängende Erklärungen für den Aderlass beim grössten Arbeitgeber im Kanton Aargau. GE ist mehr daran interessiert, in seinem Stammland USA oder anderen grossen Märkten keine gebrannte Erde zu hinterlassen. In Frankreich oder Deutschland, wo GE im Verhältnis zur Gesamtbelegschaft weniger Jobs streicht, sind die Kosten von Entlassungen für Unternehmen höher. Das ist eigentlich ein Argument für die Schweiz, wenn es um den Zuzug neuer Unternehmen geht. Es macht ihnen aber auch die Verabschiedung wieder leichter.

Markus Büttikofer, Gemeindeammann von Birr: Die Sorge ist gross.
Markus Büttikofer, Gemeindeammann von Birr: Die Sorge ist gross.
Bild: KEYSTONE

Gegen noch etwas ist Industriepolitik machtlos: den Wettbewerbsverlust durch die Aufwertung der Währung. Es mag ein Zufall sein, dass der prozentuale Stellenabbau von GE in der Schweiz grösser ist als in Deutschland oder Frankreich, Es ist aber kaum denkbar, dass der harte Franken und die damit verbundenen hohen Kosten im Kalkül der Unternehmen keine Rolle spielen.

Die Aufhebung des Euro-Mindestkurses von 1.20 Franken durch die Schweizerische Nationalbank vor genau einem Jahr liess den Franken sprunghaft aufwerten und schüttelte neben Detailhandel und Bergtourismus vor allem die Industrie durch. Von einem Tag auf den anderen wurden deren Produkte im Hauptmarkt Europa um 20 Prozent teurer. Viele Firmen senkten sofort die Preise, um konkurrenzfähig zu bleiben. Doch das liess die Margen schrumpfen. Rund ein Drittel der Mitgliedsfirmen schreiben gemäss einer Umfrage des Verbands der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (Swissmem) rote Zahlen. Der Auftragseingang brach in den ersten neun Monaten 2015 um 14,1 Prozent ein. Als Folge wurden schätzungsweise 9000 Stellen wegrationalisiert.

Die grössten Kahlschläge
2002 gingen in der Teilschliessung der ABB-Motorenfabrik in Birr 250 Stellen verloren. Die Schliessung des ehemaligen Adtranz-Werks in Pratteln durch den neuen Besitzer Bombardier kostete 2005 360 Festangestellten und 163 temporären Mitarbeiter den Job. 2013 gehen mit dem Konkurs von Ilford in Freiburg 130 Stellen verloren, Bis 2001 gibt Sulzer verschiedene Geschäftssparten auf, unter anderem den Maschinenbau: 4400 von 6200 Mitarbeitern müssen die Firma verlassen. Im Jahr 2007 streicht die Papierfabrik Biberist 550 Jobs, 2010 die Kartonfabrik Deisswil 250 Stellen.

Viele der von den Firmen aufgegleisten Massnahmen lassen sich nicht von einem Tag auf den anderen umsetzen. «Das volle Ausmass der Auswirkungen des starken Franken dürfte erst im Verlauf dieses Jahres sichtbar werden», sagt Swissmem-Sprecher Ivo Zimmermann. Er geht davon aus, dass es zu weiteren Restrukturierungen kommen wird. Wie viele Jobs betroffen sein werden, sei nicht abschätzbar. «Der überbewertete Franken hat einen beschleunigten Strukturwandel ausgelöst, der nach wie vor am Laufen ist.» Zu einer eigentlichen Deindustrialisierung werde es aber nicht kommen.

Mehr Beschäftigte im Ausland

Betroffen sind vor allem im Export tätige kleinere und mittlere Unternehmen, die weitgehend in der Schweiz produzieren sowie Zulieferer von Exporteuren. Sie sehen sich teilweise gezwungen, vor allem manuelle Tätigkeiten, die sich nicht automatisieren lassen, ins Ausland zu verlagern. Solche Verlagerungen dürften aber nicht verteufelt werden, mahnt Swissmem-Sprecher Ivo Zimmermann: «Sie verschaffen Unternehmen Luft, um in die Gewinnzone zu kommen. So können sie künftig wieder in der Schweiz investieren und neue Arbeitsplätze schaffen.» Insgesamt beschäftigen Schweizer Industriefirmen über 560'000 Mitarbeitende im Ausland. In der Schweiz dürften es Ende 2015 noch rund 320'000 gewesen sein. Zwar dürfte sich der Franken im Verlauf dieses Jahres wohl weiter abschwächen. Stark überbewertet sei unsere Währung dennoch, so Zimmermann.

Die Ankündigung von Alstom weckt Befürchtungen, dass sich solche Hiobsbotschaften in den kommenden Monaten häufen könnten. Im harten Franken nur eine Art Fitnesskur für die Industrie, als Trainingscamp zur Steigerung der Fitness und Innovationskraft zu sehen, würde sich dann als eine krasse Unterschätzung der Lage erweisen.

Erträglich sind vom stetigen Exporterfolg verursachte Aufwertungen. Doch der Franken erfährt immer wieder Aufwertungsschübe, die ihre Ursache im Ausland haben. Herrscht eine Krise, wird er zur Fluchtwährung. Für die hiesigen Banken ist diese Stabilität ein grosser Konkurrenzvorteil. Sie ziehen Geld aus aller Welt an, was die helvetische Währung zusätzlich verteuert. Dies ist für die Geldhäuser weniger eine Herausforderung als ein weiterer Pluspunkt: Man tauscht sein Geld lieber in Franken, wenn dieser im Ruf steht, aufzuwerten. Und das tut er zuverlässig, seit 100 Jahren, unaufhaltsam.

Aufwertung ohne Ende?

Jetzt auf

Die Industrie steigert die Effizienz, spezialisiert sich, dringt in Geschäfte mit höheren Margen vor – und kann sich halten. Nicht aber, ohne beständig leicht zu schrumpfen. Und das wird sie weiter tun. Denn es wäre ein Zufall, wenn die Industrie immer mit derselben Rate einen Innovationsschub herbeizaubern könnte, wie der Franken aufwertet.

Morgen Freitag jährt sich das Ende des Mindestkurses. Eine Neuauflage ist keine Option, die Nationalbank hat gezeigt, dass sie ihn nicht unter allen Umständen schützen kann. Das hat auch damit zu tun, dass sie nicht genügend Rückendeckung aus der Politik erfuhr. Im Gegenteil wurden die Risiken von Verlusten auf ihrer Bilanz geschürt, die Nationalbank mit Eurokäufen zur Stützung des Mindestkurses aufblähen musste. Diese Gewichtung war und ist ein politischer Entscheid. Er bringt es aber auch mit sich, dass es immer wieder Aufwertungen geben wird, die von vielen Firmen durch Effizienzsteigerungen in nützlicher Frist – das heisst: vor dem Konkurs – nicht zu bewerkstelligen sind.

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29 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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FelixE
14.01.2016 06:29registriert Februar 2014
Diese Entwicklung macht mir durchaus Sorgen.
Auch die Mutterfirma von meinem Arbeitsplatz muss dieses Jahr die Hälfte bis 2/3 der Arbeitsplätze in der Schweiz streichen.
Ich bin deshalb der Meinung, dass wir umso mehr Abstimmungen wie die Durchsetzungsinitiative deutlich ablehnen müssen, um den Wirtschaftsstandort Schweiz nicht noch zusätzlich zu gefährden. Denn mit solchen Vorlagen wird das Verhältnis mit den anderen Ländern (resp. der EU) auch nicht besser und führt aus meiner Sicht zu Gefahren beim Export wie aber auch Import (Billaterale Verträge etc.)
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