Schweizer glauben an Eigenverantwortung – essen aber viel zu viel Zucker
27 Würfelzucker konsumiert jede Schweizerin und jeder Schweizer im Schnitt pro Tag. Das entspricht 100 Gramm reinem Zucker und dem Doppelten dessen, was die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt. Die Folgen für die öffentliche Gesundheit und ihre Finanzierung sind erheblich: Der Zuckerkonsum fördert Übergewicht, Diabetes, Herzkreislauferkrankungen und Depressionen.
Nahezu alle Industriestaaten haben ein Zuckerproblem. Über 80 Länder haben deshalb Steuern auf zuckerhaltige Produkte eingeführt. Je höher der Zuckergehalt, desto höher die Abgabe. Damit konnten sie den Zuckeranteil in Lebensmitteln wie Süssgetränken senken. In Grossbritannien zum Beispiel hat sich infolge der Besteuerung ab 2018 der Zuckergehalt in Süssgetränken um 1,7 Gramm pro 100 Mililiter reduziert. Mexiko hat seine Steuer auf Süssgetränke erst diesen September verdoppelt. Keine solche Lenkungsabgabe auf nationaler Ebene kennt hingegen die USA, wo die Zuckerlobby die Einführung erfolgreich verhindert hat.
Erfolgreiches Lobbying der Lebensmittelindustrie
Und in der Schweiz? Auch hier gibt es keine Zuckersteuer. Und das entspricht durchaus dem Willen einer Mehrheit der Bevölkerung. Zu diesem Resultat kommt eine neue Studie des Forschungsinstituts GfS in Bern, die am Mittwoch vorgestellt wurde.
Demnach sehen zwar 91 Prozent der Befragten zugesetzten Zucker als Dickmacher und 90 Prozent wünschen sich, dass die Lebensmittelbranche aufhört, versteckten Zucker in Fertiggerichten zu verwenden. Gleichzeitig lehnen 72 Prozent eine Steuer auf zucker-, salz- und fetthaltige Lebensmittel ab.
Ein Grund für die Ablehnung ist laut der Studie, dass eine Zuckersteuer über Preisaufschläge insbesondere armutsbetroffene Personen und Familien belasten würde. Ausserdem sind 70 Prozent der Befragten überzeugt, dass sich Ernährungsgewohnheiten nicht mit Steuern ändern lassen. Das ist allerdings gar nicht der primäre Wirkmechanismus dieser Steuern: Sie fallen bei den Herstellern an. Sie und nicht die Konsumenten sollen zu einer Veränderung bewegt werden.
In Auftrag gegeben hat die Schweizer Studie mit dem Titel «Ernährung und Bewegung – Eigenverantwortung gewinnt an Bedeutung» die «Informationsgruppe Erfrischungsgetränke». Die Lobbyorganisation der Getränkebranche wehrt sich seit rund zehn Jahren erfolgreich gegen staatliche Regulierung und propagiert Freiwilligkeit.
So hat die Schweizer Lebensmittelindustrie im Rahmen der sogenannten Erklärung von Mailand den Zuckeranteil in einer Reihe von Produkten gesenkt. 84 Prozent der in der Studie Befragten, begrüssen dieses gemeinsame Vorgehen von Staat und Wirtschaft.
Kritik vom Konsumentenschutz
Nicht allen reicht das: Einige Westschweizer Kantone wollten bereits auf eigene Faust eine Steuer einführen. Umgesetzt ist sie noch nirgends. Und die Stiftung für Konsumentenschutz schreibt auf Anfrage, die jährliche durchgeführte Studie sei «Teil eines intensiven Lobbyings gegen jegliche Bemühungen, die Ernährungsumgebung zu gestalten und gewisse rote Linien zu ziehen». Der Informationsgruppe Erfrischungsgetränke gehe es nur darum, mit Befragungen zu belegen, dass eine Zuckersteuer eine abwegige Idee sei, welche auch die Bevölkerung nicht mittrage.
Freiwillige Massnahmen hätten – etwa im Bereich der Werbung für Kinderprodukte – in 15 Jahren nicht gefruchtet, schreibt die Stiftung für Konsumentenschutz weiter. Die Lebensmittelindustrie konfrontiere die Konsumentinnen und Konsumenten mit schwer durchschaubaren Deklarationen sowie einem Marketing, das auf überzuckerte Lebensmittel fokussiert.
(aargauerzeitung.ch)