International
Schweiz

Nobelpreisträgerin Matwijtschuk: «Putin lacht über Trumps Friedensversuche»

Ukrainian Nobel laureate Oleksandra Matviichuk prepares to testify at the 'people's tribunal' where prosecutors symbolically put Russian President Vladimir Putin on trial for the crime  ...
Kämpferin für Menschenrechte und Freiheit: Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk.Bild: keystone
Interview

Nobelpreisträgerin: «Putin lacht über Trumps Friedensversuche»

Oleksandra Matwijtschuk kämpft für Menschenrechte in ihrer überfallenen Heimat. Die Ukrainerin fordert von der Schweiz mehr Härte gegenüber Russland – und sagt, welches Kriegsbild sie bis heute nicht loslässt.
12.11.2025, 06:0712.11.2025, 06:18
Fabian Hock / ch media

Sie spricht leise, ohne viel Pathos. In Oleksandra Matwijtschuks Worten liegt die Härte von elf Kriegsjahren.

Eine Kamera begleitet sie derzeit auf Schritt und Tritt – auch in den mit Holz ausgekleideten Konferenzraum der Universität Genf an diesem Nachmittag. Über die Menschenrechtsanwältin aus Kiew entsteht gerade ein Dokumentarfilm.

Matwijtschuk belegt Verbrechen der russischen Armee in der Ukraine und setzt sich für politische Gefangene ein. Das von ihr geleitete Zentrum für bürgerliche Freiheiten wurde dafür 2022 mit dem Friedensnobelpreis geehrt.

In Genf berichtet die 42-Jährige von erschütternden Zuständen in den russisch besetzten Gebieten. Der Schweiz redet sie nicht nur ins humanitäre Gewissen, sondern stellt auch konkrete Forderungen.

Sie hat vieles gesehen in diesem Krieg. Trotzdem wirkt die erfahrene Juristin stets gefasst. Nur einmal gerät ihre Ruhe ins Wanken – als sie vom kleinen Ilya aus Mariupol erzählt.

Sie haben jahrelang russische Kriegsverbrechen in der Ukraine dokumentiert. Was wird von uns, die von aussen darauf schauen, an diesem Krieg noch immer missverstanden?
Oleksandra Matwijtschuk: Der Krieg begann nicht vor drei Jahren, sondern bereits 2014. Viele Leute denken immer noch, dass es sich um einen Territorialkonflikt handelt. Viele sehen die Wertedimension dieses Krieges nicht. Er begann, nachdem Millionen von Menschen in der Ukraine ihre Stimme gegen die korrupte, autoritäre Regierung erhoben und friedlich demonstrierten. Mehr als 100 Menschen wurden dabei im Zentrum von Kiew erschossen. Als das autoritäre Regime zusammenbrach und die Ukraine die Chance auf einen demokratischen Übergang bekam, ist Putin einmarschiert. Zuerst auf die Krim, dann in Teile der Ostukraine. Vor drei Jahren hat er es auf die grosse Invasion erweitert. Die Ukraine war 2014 ein neutrales Land. Es gab keine Ambitionen, der Nato beizutreten. Putin hat uns nicht angegriffen, weil er Angst vor der Nato hat.

Er fürchtet sich vor der Idee der Freiheit.

Was erwarten Sie von der Schweiz, abgesehen von humanitärer Hilfe, um die Ukraine zu unterstützen?
Verantwortung übernehmen. Nicht nur für die Menschen in der Ukraine, sondern für die Menschen in der Schweiz. Putin hat diesen Krieg nicht begonnen, um nur ein weiteres Stück Land zu besetzen. Das ist kein Krieg um Awdijiwka, Bachmut oder Pokrowsk. Die meisten Leute finden diese kleinen Orte gar nicht auf der Landkarte. Putin hat den Krieg begonnen, um die gesamte Ukraine zu besetzen und zu zerstören. Er denkt historisch, träumt von seinem Vermächtnis. Er will das sowjetische Imperium mit Gewalt wieder herstellen. Auch nach Jahren des Krieges rückt er nicht davon ab. Er hat dabei Hunderttausende Menschen verloren, aber das interessiert ihn nicht, denn menschliches Leben ist für ihn die billigste Ressource. Der Krieg ist nicht nur ein Problem der Ukraine. Dieser Krieg ist auch ein Problem der Schweiz.

Was kann die Schweiz konkret tun?
Die Schweiz muss die Hintertüren schliessen, die Russland helfen, Sanktionen zu umgehen. Wenn wir Raketen und Drohnen auf dem Schlachtfeld finden, finden wir Bauteile aus der Schweiz darin. Das ist nicht in Ordnung. Die Schweizer Regierung muss Untersuchungen starten, wie es sein kann, dass mithilfe von Schweizer Teilen Menschen in der Ukraine getötet werden. Dieser Krieg hat eine wirtschaftliche Dimension. Russland hat mutwillig ukrainische Wohnhäuser, Schulen, Spitäler und Infrastruktur zerstört und begeht weiter Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Millionen Ukrainer werden diesen Winter ohne Heizung, frisches Wasser oder Licht verbringen müssen. Wenn Sie nicht wissen, wie Sie die Milch für Ihr neugeborenes Baby aufwärmen sollen, dann geht es ums Überleben. Wie kann die Schweiz hier helfen? Indem sie hilft, den Wiederaufbau der Ukraine jetzt bereits zu beginnen, nicht erst nach dem Krieg, wir wissen ja gar nicht, wann das sein wird. Die Schweiz kann unseren lokalen Gemeinschaften helfen, wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen.

Unternimmt die Schweizer Regierung genug, um gegen die Umgehung der Sanktionen vorzugehen?
Vielleicht täusche ich mich, aber mir sind keine Untersuchungen bekannt.

Ausgezeichnet für ihren Freiheitskampf: Oleksandra Matwijtschuk (links), Leiterin des Zentrums für bürgerliche Freiheit, bei der Nobelpreisverleihung 2022 in Oslo.
Ausgezeichnet für ihren Freiheitskampf: Oleksandra Matwijtschuk (links), Leiterin des Zentrums für bürgerliche Freiheit, bei der Nobelpreisverleihung 2022 in Oslo.Rodrigo Freitas/Imago

In ganz Europa macht sich zunehmend Kriegsmüdigkeit breit. Wie gefährlich ist das?
Ja, das ist so. Aber wie kann man erschöpft sein von einem Krieg, der auf ihren Alltag bislang gar keine Auswirkungen hat, wenn sie ihre Geschäfte nicht aus einem Bombenkeller heraus machen müssen? Wenn sie ihre Kinder in Sicherheit in die Schule schicken? In Charkiw dauert es 42 Sekunden, bis eine russische Rakete eine Schule erreicht. In dieser Zeit schaffen es viele Kinder nicht bis zu einem Schutzraum. Wie kann man müde sein, wenn man diese Dinge nicht selbst erlebt? Es ist nicht Müdigkeit. Es ist der fehlende Wille zum entschlossenen Handeln. In Friedenszeiten kann man zögerliches Verhalten vielleicht  akzeptieren. Aber wir sind nicht in friedlichen Zeiten, sondern in einem globalen Sturm. Es ist nicht nur ein Krieg zwischen zwei Staaten, sondern zwischen zwei Systemen: zwischen autoritärer Herrschaft und Demokratie. Russische Regierungsmitglieder und Propagandisten diskutieren offen darüber, welches europäische Land sie als nächstes angreifen werden. Die Menschen in Europa sind nur deshalb sicher, weil die Ukrainer immer noch kämpfen.

Vertrauen Sie darauf, dass US-Präsident Donald Trump die Ukraine weiter unterstützen wird?
Man muss auf der Seite des internationalen Rechts und der Menschlichkeit sein. Die Menschen in der Ukraine träumen vom Frieden. Aber der Frieden kommt nicht, wenn das überfallene Land aufhört, sich gegen die Besatzung zu wehren. Russische Besatzung ist fürchterlich. Es ist nicht der Austausch von einer Flagge gegen eine andere, sondern Entführung, Folter, Vergewaltigung, Zerstörung der eigenen Identität und Massengräber. Besatzung ist nur eine andere Form von Krieg. Putin lacht über alle Versuche von Präsident Donald Trump, Frieden zu schaffen. Putin will keinen Frieden. Er will seine historischen Ziele erreichen, und er ist überzeugt, dass er gewinnt. Er denkt, dass die Zeit auf seiner Seite ist. Trump hat die Hebel, um die Zeit zu Putins Feind zu machen. Die Frage ist, ob er diese Hebel nutzen wird.

Wie kann Putin und der Rest der russischen Führung zur Verantwortung gebracht werden?
Die Antwort liegt im internationalen Recht. Wir sind hier in Genf in der Hauptstadt des Menschenrechtsmandats der Vereinten Nationen. Aber es gibt das Gesetz, es gibt Politik – und eine Lücke dazwischen. Wir schauen durch die Linse der Nürnberger Prozesse auf die Welt, als Nazi-Verbrecher erst nach dem Kollaps des Nazi-Regimes der Prozess gemacht wurde. Wir leben jetzt in einem neuen Jahrhundert. Die UNO wurde geschaffen. Wir müssen uns selbst immer wieder daran erinnern, dass Gerechtigkeit kein Privileg ist, sondern ein grundlegendes Menschenrecht.

Putin soll also sofort vor Gericht?
Es gibt keine Notwendigkeit zu warten. Im Juni dieses Jahres hat der Europäische Rat ein Abkommen mit der Ukraine geschlossen, ein Tribunal über die russische Aggression zu schaffen, um die russische Führung zur Verantwortung zu ziehen. Und zwar für ihren Entscheid, in die Ukraine einzumarschieren. Dieser hat den Weg zur Hölle geöffnet. Alle Kriegsverbrechen, die wir dokumentiert haben, sind das Resultat dieses Entscheids der russischen Führung. Mich interessiert: Wird sich die Schweiz anschliessen und demonstrieren, dass sie es ernst meint mit ihrem Bekenntnis zu Gerechtigkeit? Durch Handeln, nicht nur als Gastgeberin für Menschenrechtsorganisationen der UNO.

Zur Person
Oleksandra Matwijtschuk ist ukrainische Menschenrechtsanwältin, geboren 1983 in der Nähe von Kiew. Sie leitet das Zentrum für bürgerliche Freiheiten in der ukrainischen Hauptstadt, das Kriegsverbrechen dokumentiert und sich für politische Gefangene in Russland und Weissrussland einsetzt. International bekannt wurde sie für ihren Einsatz für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Verantwortung der Täter. 2022 wurde ihr Engagement mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. (fho)
infobox image
Bild: keystone

Die EU lobt die Ukraine einerseits für ihre demokratischen Reformen, warnt aber zugleich vor einem Risiko einer «Erosion der Demokratie». Ex-Präsident Petro Poroschenko warnte kürzlich vor einem «Abrutschen in autokratische Praktiken». Im Zentrum der Kritik steht Präsident Wolodymyr Selenskyj. Ist er noch ein Kämpfer für Demokratie, oder schadet er ihr?
Der Krieg hat seine eigene Logik. Diese steht im Widerspruch zur Logik der Demokratisierung. Die Logik des Krieges diktiert Zentralisierung. Sie diktiert auch Limitierung von Menschenrechten und Freiheiten, etwa durch sicherheitsbedingte Ausgangssperren. Wir müssen unser Land vor der russischen Aggression schützen und gleichzeitig demokratische Reformen voranbringen. Das ist sehr schwierig.

Gemeinsame Gewinner: Matwijtschuk (rechts) mit Jan Ratchynsky von der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial und Natalia Pinchuk, die stellvertretend für ihren Ehemann Ales Bjaljazki den Nobel ...
Gemeinsame Gewinner: Matwijtschuk (rechts) mit Jan Ratchynsky von der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial und Natalia Pinchuk, die stellvertretend für ihren Ehemann Ales Bjaljazki den Nobelpreis 2022 in Oslo entgegennahm.Bild: Annika Byrde/Imago

Ist Selenskyj dabei auf dem richtigen Weg?
Bei dieser Frage geht es nicht nur um Selenskyj. In diesem Sommer hatten wir Massenproteste in der Ukraine. Das Parlament hat ein Gesetz verabschiedet, das die Unabhängigkeit von Anti-Korruptionsbehörden einschränkt. Die Leute waren wütend und gingen auf die Strasse. Nach einigen Tagen Protest hat die Präsidialadministration den Entwurf zurückgenommen. Es war ein Zeichen der Stärke der ukrainischen Demokratie – mit all den Problemen, die sie hat. Wir sind eine Nation im Wandel. Wir sind weit weg davon, ideal zu sein. Vieles muss noch getan werden. Aber wir sind auf dem richtigen Weg. Die Quelle unserer Widerstandsfähigkeit sind ganz normale Leute, die die Verantwortung für ihre demokratische Zukunft in die Hand nehmen.

Ukrainische Frauen haben in diesem Krieg ganz besondere Verantwortung übernommen – als Soldatinnen, in der medizinischen Versorgung, als freiwillige Helferinnen. Wie hat der Krieg die Rolle der Frauen in der ukrainischen Gesellschaft verändert?
Wir haben eine riesige Menge an fantastischen Frauen in allen Bereichen unserer Gesellschaft. In der Armee, in der Dokumentation von Kriegsverbrechen, in der Politik, bei zivilen Initiativen. Frauen sind mit an der Speerspitze im Kampf um die Freiheit, denn Mut hat kein Geschlecht. Wir Ukrainerinnen kämpfen für unsere Töchter.

Oleksandra Matwijtschuk im Februar 2024 während einer Kundgebung in Kiew.
Oleksandra Matwijtschuk im Februar 2024 während einer Kundgebung in Kiew.Bild: Imago

Sie haben unzählige Kriegsverbrechen dokumentiert, mit vielen Opfern gesprochen. Gibt es einen Moment, ein Bild, eine Begegnung, die sie bis heute nicht loslässt?
Die Geschichten der Kinder. Die des 10-jährigen Ilya aus Mariupol ist eine davon. Als die Russen versuchten, die Stadt zu erobern, erlaubten sie dem Roten Kreuz nicht, Zivilisten zu evakuieren. Ilya und seine Mutter mussten sich, wie viele andere, im Keller ihres Gebäudes vor den russischen Granaten verstecken. Als ihre Vorräte aufgebraucht waren, mussten sie nach draussen gehen. Plötzlich befanden sie sich mitten im russischen Beschuss. Ilyas Mutter wurde am Kopf getroffen. Er wurde schwer am Bein verletzt. Es gab keine medizinische Hilfe mehr in der Stadt, die Russen hatten alles zerstört. Sie trug ihren Sohn in die Wohnung von Bekannten. Sie legten sich dort auf die Couch und umarmten sich. So lagen sie über Stunden dort. Der kleine Junge hat meinen Kollegen erzählt, wie seine Mutter in seinen Armen starb. Wenn ich den Horror und die Verzweiflung dieses Krieges beschreiben soll, dann mit diesem Bild.

Was hält Sie persönlich davon ab, die Hoffnung zu verlieren?
Die Überzeugung, dass man sich auf die Menschen verlassen kann. Normale Leute können Aussergewöhnliches leisten. Wir sind daran gewöhnt, in Kategorien wie Staat oder überstaatlichen Organisationen zu denken, aber normale Leute haben sehr viel Macht. Die Ukrainer sind dafür ein leuchtendes Beispiel. Putin, aber auch viele unserer internationalen Partner glaubten nicht daran, dass wir Russland viel entgegenzusetzen hätten. Ich war in Kiew, als der Krieg losging, und habe die Evakuierung verweigert. Mit einem Teil meines Teams haben wir unsere Arbeit fortgesetzt. Internationale Organisationen haben uns alleine gelassen, aber ganz normale Leute sind geblieben. Es wurde bald klar: Wenn normale Leute für ihre Freiheit und Menschenwürde kämpfen, sind sie sogar stärker als die zweitgrösste Armee der Welt. (aargauerzeitung.ch)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
Du hast uns was zu sagen?
Hast du einen relevanten Input oder hast du einen Fehler entdeckt? Du kannst uns dein Anliegen gerne via Formular übermitteln.
77 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Gina3
12.11.2025 06:32registriert September 2023
Das muss wirklich jedem klar sein:

“Putin hat den Krieg begonnen, um die gesamte Ukraine zu besetzen und zu zerstören. Er denkt historisch, träumt von seinem Vermächtnis. Er will das sowjetische Imperium mit Gewalt wieder herstellen”

Deshalb ist es wichtig, dass ganz Europa gegen diesen Vernichtungsplan zusammenhält.
Und mit ganz Europa ist auch die Schweiz gemeint.
22712
Melden
Zum Kommentar
avatar
rodolofo
12.11.2025 06:31registriert Februar 2016
Ein wunderbares Interview, in dem alles Wesentliche gesagt wurde. Vielen Dank dafür!
1519
Melden
Zum Kommentar
avatar
001243.3e08972a@apple
12.11.2025 06:31registriert Juli 2024
Chapeau.
12910
Melden
Zum Kommentar
77
JFK-Enkel Jack Schlossberg will in die Politik
Ein weiterer Kennedy will in die US-Politik: Jack Schlossberg, Enkel des früheren US-Präsidenten John F. Kennedy (1917-1963) und seiner Ehefrau Jacqueline Kennedy Onassis (1929-1994), tritt für einen Sitz im US-Repräsentantenhaus an. Er werde in seinem New Yorker Wahlkreis 2026 für die demokratische Partei antreten, verkündete der 32-Jährige via Instagram-Video.
Zur Story