Wie konnte das passieren? Diese Frage stellt sich für die Verantwortlichen des Bundesamtes für Verkehr (BAV) knapp drei Wochen nach dem tödlichen Unfall von Baden immer lauter. Am 4. August um 00:10 Uhr war ein Zugbegleiter der SBB auf dem Perron von einer Türe eingeklemmt und kilometerweit mitgeschleift worden. Der Einklemmschutz des Einheitswagens IV hatte komplett versagt, der 54-Jährige verstarb.
In den Folgetagen bemühten sich die SBB, die Öffentlichkeit zu beruhigen. Die Bundesbahnen beriefen eine Arbeitsgruppe ein, kündigten Sonderkontrollen des betroffenen Wagentyps und weitere Sofortmassnahmen an.
Nun aber beginnt die Fassade zu bröckeln. Nachdem anfänglich von fünf defekten Zugtüren die Rede war, ist die Zahl der Mängel mittlerweile auf 512 angestiegen. Nicht alle sicherheitsrelevant, zum Teil handelt es sich um spröde Gummileisten und falsch verlegte Kabel. Doch bei mindestens 66 Türen funktionierte der Einklemmschutz nur eingeschränkt, in sieben Fällen gar nicht. Das ganze Ausmass wird erst in den kommenden Wochen bekannt sein, wenn die Sonderkontrollen abgeschlossen sind.
Eines ist allerdings schon jetzt klar: Das Vertrauen des Bundes in die SBB-Führung ist nach den ersten Befunden aus dem Zwischenbericht der Schweizerischen Sicherheitsuntersuchungsstelle angeschlagen. Die Aufsichtsbehörde BAV verfügte am Freitag nicht nur, dass die SBB den Einklemmschutz der Einheitswagen IV ersetzen und die Zuverlässigkeit der Türschliessanzeige im Führerstand bis Ende Oktober garantieren müssen. Das Bundesamt beschloss auch, dass die SBB Organisation und Abläufe beim Fahrzeugunterhalt durch ein externes Unternehmen überprüfen müssen.
BAV-Direktor Peter Füglistaler wollte den Auftrag an einer Pressekonferenz in Ittigen nicht als direktes Misstrauensvotum verstanden haben. Ein externer Audit sei in einem solchen Fall völlig normal. Zweifel aufzubringen, gehöre zum Pflichtenheft einer Aufsichtsbehörde.
Trotzdem drängt sich die Frage auf: Hätte sich der Unfall vermeiden lassen? Warum wird der Einklemmschutz erst jetzt ersetzt? Brauchte es zuerst einen Todesfall? Im Anschluss an die Pressekonferenz sagte BAV-Sektionschef Daniel Kiener im Gespräch mit der «Schweiz am Wochenende», der heute bei allen Einheitswagen IV eingesetzte pneumatische Einklemmschutz stamme noch aus den 80er-Jahren.
Die meisten kleinen Bahnunternehmen der Schweiz hätten dieses unpräzise Sicherheitssystem in den 90er- und den 2000er-Jahren «von sich aus» durch elektronische Lösungen ersetzt, so zum Beispiel die BLS, wo er früher tätig war. Moderne Türen seien von einem zentralen Rechner gesteuert, weshalb der Einklemmschutz deutlich zuverlässiger funktioniere. Die SBB jedoch hätten weiterhin auf den veralteten pneumatischen Einklemmschutz gesetzt. Warum, wisse er nicht.
Damit konfrontiert, teilen die Bundesbahnen mit: «Gemäss der Planung gingen die damaligen Verantwortlichen nicht davon aus, dass die Einheitswagen IV noch so lange im Betrieb stehen. Aus diesem Grund wurde damals entschieden, die Wagen nicht umzurüsten.» Eine ehrliche, aber nicht beruhigende Erklärung.
Kurz nach der Pressekonferenz des Bundesamtes für Verkehr trat am Freitagnachmittag am SBB-Hauptsitz in Bern CEO Andreas Meyer mit seiner Führungsmannschaft vor die Medien. Der langjährige Bahnchef, der von sich selber sagt, er habe schon viele Krisen gemeistert, räumte Probleme, aber keine Versäumnisse ein. Stattdessen sprach Meyer von der hohen Passagiernachfrage im ersten Halbjahr 2019, erwähnte die Fête des Vignerons in Vevey und das Eidgenössische Schwingfest dieses Wochenende in Zug. «Das wäre ohne uns gar nicht denkbar.»
So tragisch der Unfall von Baden sei – die Eisenbahn sei nach wie vor das sicherste von allen Verkehrsmitteln. Meyer zeigte sich zwar überrascht von den vielen Mängeln, die bei den Sonderkontrollen entdeckt wurden; die Zahl sei aber auch eine Konsequenz davon, dass man jetzt besonders genau hinschaue. Wenn man sich als Patient im Spital einem Ganzkörper-MRI unterziehe, entdecke man auch mehr als bei einer gewöhnlichen Blutdruckmessung. Und: Wo Menschen arbeiteten, passierten Fehler.
Eine gewöhnliche Krise, die sich meistern lässt – diesen Eindruck verbreitete der SBB-CEO. Wie lange die Politik noch zuschaut, steht auf einem anderen Blatt geschrieben.
Das Verhältnis zu Verkehrsministerin Simonetta Sommaruga könnte besser sein: Die SP-Bundesrätin versuchte im Frühling kurz nach ihrem Antritt im neuen Departement erfolglos, den Millionenlohn des Bahnchefs zu kürzen.
In den nicht direkt für die Aufsicht der SBB verantwortlichen Verkehrskommissionen des Parlaments geniesst Meyer nach knapp 13 Jahren im Amt immer noch viel Goodwill. Der Transportunternehmer und Aargauer SVP-Nationalrat Ulrich Giezendanner sieht nicht bei der Person Meyer, dafür beim Verwaltungsrat der Bundesbahnen Handlungsbedarf. Das oberste Führungsgremium der SBB sei in seinen Augen nicht kompetent. Wenn überhaupt, müsse man eine Absetzung von Verwaltungsratspräsidentin Monika Ribar prüfen.
Der Ersatz des Einklemmschutzes der Einheitswagen IV wird die SBB 20 bis 30 Millionen Franken kosten, wie Personenverkehrschef Toni Häne am Freitag erklärte. Bei einem Jahresumsatz von gegen zehn Milliarden Franken ein vernachlässigbarer Betrag. Die Arbeiten werden mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Wahrscheinlich dürfte die Erneuerung deshalb nur bei einem Teil der gut 500 Wagen erfolgen, da die entsprechenden Wagen bis Anfang der 2030-Jahre sukzessive ausser Betrieb genommen werden.
Zahlreiche Fragen zum Unfallhergang am 4. August bleiben weiterhin offen. Zum Beispiel, warum sich die Türe schloss, als sich der Zugbegleiter noch auf dem Perron befand – das und vieles mehr wird der Schlussbericht der Unfallexperten klären müssen.