Es wirkt auf den ersten Blick befremdlich, was das Portal Inside Paradeplatz am Montagabend publik gemacht hat. Ein Chefarzt und Klinikdirektor am Universitätsspital Zürich bewohnt mit seiner Familie (zwei Kinder) ein Reihen-Einfamilienhaus in Zürich – 3 Etagen, 200 m2 Wohnfläche, 2200 Franken Miete pro Monat. Was viele Menschen besonders erzürnt, ist die Tatsache, dass das Haus der Baugenossenschaft Zentralstrasse gehört.
Die Fragen, die sich viele stellen: Stehen Baugenossenschaften nicht für bezahlbaren Wohnraum, der vor allem für diejenigen Bevölkerungsschichten gedacht ist, die nur über wenig finanzielle Mittel verfügen? Ist es nicht völlig daneben, dass ein Chefarzt mit einem geschätzten Jahreseinkommen im mittleren sechsstelligen Bereich mit seiner Familie ein solches Haus bewohnt?
Auf der Webseite der Baugenossenschaft Zentralstrasse heisst es unter anderem: «Für die Gesellschaft leisten wir unseren Beitrag, indem wir qualitativ guten Wohnraum erstellen, welcher dauerhaft der Spekulation entzogen ist.»
watson hat mit mehreren Baugenossenschaften Gespräche geführt und sich ein Bild verschafft, wie sie aufgestellt sind und wie sie funktionieren. Der Fall des Chefarztes ist durchaus diskutabel, eine pauschale Verurteilung aber zu einfach.
Doch der Reihe nach.
Zunächst gilt es zu klären, ob die von Inside Paradeplatz – das Portal beruft sich auf einen «Insider» – angegebene Miete von 2200 Franken stimmt. Nachfrage bei der Baugenossenschaft Zentralstrasse, wo der Arzt wohnt. Die Miete bewege sich in diesem Rahmen, heisst es kurz und knapp.
Was ebenfalls erwähnt werden muss: Es gilt bei Baugenossenschaften zu unterscheiden. Zwischen denjenigen, die durch die öffentliche Hand unterstützt werden, und solchen, die freitragend sind. Zweitere müssen sich nicht den Vorwurf gefallen lassen, Steuergelder zu erhalten und gleichzeitig ihren Wohnraum an Personen zu vermieten, die nicht auf tiefe Mietzinsen angewiesen sind.
Bei der Baugenossenschaft Zentralstrasse und den von watson kontaktierten Gesellschaften handelt es sich um freitragende Genossenschaften.
Dabei zeigen sich gewisse Muster. So heisst es unisono, dass ein Chefarzt mit Salär im mittleren sechsstelligen Bereich heute keine Wohnung zugesprochen bekäme. Rauswerfen würden sie jedoch niemanden. Mathias Ninck, Präsident der Baugenossenschaft Oberstrass, formuliert es so: «Wir vergeben keine Wohnungen an reiche Personen, wer jedoch mit tiefem Einkommen bei uns eingezogen ist und später gut verdient, darf bleiben.»
Der Arzt des Universitätsspitals wohnt seit 16 Jahren in der Genossenschaft Zentralstrasse. Es gibt aber auch Genossenschaften, die ihre Mietenden ab einem gewissen Einkommen herauswerfen. Es sei jedoch mit dem grossen Aufwand verbunden, in einem gewissen Rhythmus die Steuererklärung zu kontrollieren, die Grundlage, um die finanzielle Lage eines Mieters einschätzen zu können.
Gelegentlich komme es vor, dass Mietende, die viel mehr verdienen als beim Einzug, ihre Genossenschaftswohnung von sich aus verlassen. Stefan Fricker, Geschäftsführer der Baugenossenschaft im Gut, betont, dass man darauf setze, dass sich Personen, welche sich finanziell entwickelt hätten, solidarisch zeigten. Dies sei jedoch nicht immer der Fall. «Mietende sind in einer Genossenschaft verwurzelt, ihre Kinder sind verwurzelt, dann wollen sie bleiben.»
Auch die Baugenossenschaft Zentralstrasse – dort wohnt der Chefarzt – betont gegenüber 20 Minuten: «Wir sind darauf angewiesen, dass die Mieterinnen und Mieter, die viel verdienen, freiwillig ihre Wohnungen hergeben.»
Als nicht ganz einfach wird die Überprüfung der finanziellen Situation beim Einzug eines Mieters beschrieben. Die Baugenossenschaft im Gut achtet im Auswahlverfahren darauf, dass Interessenten ihr Einkommen und Vermögen offenlegen. Alles könne jedoch nicht kontrolliert werden. Geschäftsführer Stefan Fricker betont: «Wir sind beschränkt im Handeln und setzen auch auf Ehrlichkeit.»
Auch wenn Baugenossenschaften grundsätzlich ein gemeinnütziger Charakter innewohnt – sie operieren nicht renditegetrieben –, sei die Durchmischung sehr wichtig. Dies sagen mehrere der kontaktierten Baugenossenschaften. Und dazu gehörten auch Besserverdienende. Jeder Lebensentwurf bringe sich auf seine Art in eine Gemeinschaft ein. Nebst einer Reinigungskraft habe es da auch Platz für eine Mittelschullehrerin. Man müsse eine Genossenschaft als Ganzes betrachten und sich nicht nur auf das Einkommen fixieren.
Dennoch liegt der Fokus auf Personen, die wenig verdienen. In der Baugenossenschaft im Gut belegen diejenigen Mietenden, die über ein geringes Einkommen verfügen (steuerbar 30'000 bis 50'000 Franken), rund 40 Prozent der rund 500 Wohnungen. In einer anderen Baugenossenschaft, mit der watson gesprochen hat, wird darauf geachtet, dass sehr günstige Wohnungen nicht zu rasch saniert werden. Dies führe sonst zu höheren Mieten. Durch diese Massnahme können Personen, die beispielsweise Sozialhilfe beziehen, in ihren Wohnungen bleiben.
Ein interessanter Aspekt, der von mehreren Baugenossenschaften angesprochen wurde, sind die Ämter, die es innerhalb einer Genossenschaft zu besetzen gilt. Es handelt sich dabei um Vorstandsmandate, Sitze in Kommissionen oder Arbeitsgruppen. Da brauche es oftmals spezielle Kenntnisse, etwa im Bereich Recht oder Finanzen. Diejenigen Personen, die einerseits dieses Wissen mitbringen und sich andererseits bereit erklären, diese Milizarbeit zu leisten, seien oft auch diejenigen mit höherem Einkommen, sagt Mathias Ninck von der Baugenossenschaft Oberstrass.
Ebenfalls ein Faktor: die Höhe des Anteils, der beim Einzug geleistet werden muss. Bei älteren Baugenossenschaften mit niedrigem Verschuldungsgrad liegt dieser tiefer als bei solchen, die erst vor Kurzem gegründet wurden und auf Kapital angewiesen sind. Da komme es vor, dass mehr als 100'000 Franken als Anteil einbezahlt werden müssen, um in einer Genossenschaft wohnen zu können. Die Vorstellung, dass Genossenschaften per se günstig seien, sei nicht ganz korrekt, sagen mehrere Genossenschafter gegenüber watson.
Wie gross das Interesse an einer Genossenschaftswohnung ist, zeigt das Beispiel einer Zürcher Genossenschaft, die nicht namentlich genannt werden möchte. Die 125 lediglich auf einer eigenen Website ausgeschriebenen Wohnungen eines Neubaus waren dermassen beliebt, dass das Bewerbungstool nach 24 Stunden wieder geschlossen werden musste. Über 350 Bewerbungen waren eingegangen, «seriöse, gute Bewerbungen», betont die entsprechende Baugenossenschaft.
Eine andere Genossenschaft berichtet von einer massiv gesunkenen Fluktuation. Während in «normalen» Jahren teils 20 bis 30 Wohnungen frei wurden, seien es im Moment noch eine bis drei.
Es ist derzeit also enorm schwierig, eine Genossenschaftswohnung zu erhalten. Dies macht den Ärger über den sehr gut verdienenden Chefarzt zumindest teilweise verständlich.
Genossenschaften verzichten einfach darauf, eine überrissene Rendite auf der Miete zu machen. Das Beispiel im Artikel zeigt einfach, wie teuer die Mieten wären, wenn Mieter nicht abgezockt würden.