Für Pierin Vincenz geht es ans Eingemachte: Am Dienstag beginnt vor dem Bezirksgericht Zürich die Verhandlung gegen den einstigen Raiffeisen-Chef, seinen Kompagnon Beat Stocker und fünf Mitangeklagte. Obwohl es sich um eine komplexe Materie handelt, ist die Publizität so gross wie bei keinem Wirtschaftsfall seit dem Swissair-Prozess von 2007.
Es gab seither weitere grosse Strafverfahren, etwa zum Kollaps der Winterthurer Erb-Gruppe, der zweitgrössten Schweizer Firmenpleite nach dem Swissair-Absturz. Oder gegen Hans Ziegler, den einstigen «Sanierer der Nation», der wegen Insiderhandels zwei Jahre Gefängnis erhielt. Doch beim Fall Vincenz geht es um mehr als Zahlen und Bilanzen.
Der heute 65-jährige Bündner galt als Verkörperung des «guten» Bankers, der den Automatischen Informationsaustausch für unvermeidbar erklärte, als der grösste Teil der Branche sich noch verbissen ans Bankgeheimnis klammerte. Nun steht er vor Gericht als «Spesenritter», der bei Übernahmen in die eigene Tasche gewirtschaftet haben soll.
Für alle Angeklagten gilt die Unschuldsvermutung. Und tatsächlich sind längst nicht alle Beobachter von einem Schuldspruch überzeugt. Bis ein Urteil vorliegt, dürfte ohnehin einige Zeit vergehen. Denn diverse externe und interne Faktoren könnten die Verhandlung in die Länge ziehen, womöglich auf unbestimmte Zeit. Ein Überblick über die wichtigsten Punkte:
Wer auf ein Spektakel wie bei den amerikanischen «Showprozessen» hofft, wird enttäuscht werden. Schon diese verlaufen in der Realität weniger knallig als in Film und Farbfernsehen. Eine Schweizer Verhandlung ist erst recht eine nüchterne Angelegenheit. So werden nur selten Zeugen aufgerufen, etwa wenn das Gericht zusätzliche Informationen benötigt.
Auch muss anders als etwa in Deutschland nicht das ganze Verfahren aufgerollt werden. Das sorgt in der Regel für einen relativ speditiven Ablauf. Eine Ausnahme war der Swissair-Prozess. Weil 19 Angeklagte vor Gericht standen, die teilweise aus dem Ausland anreisten, dauerte er fast zwei Monate, von Mitte Januar bis Anfang März 2007.
Zu Beginn klärt das Bezirksgericht unter dem Vorsitz von Sebastian Aeppli (Grüne) allfällige Vorfragen. Dazu gehören laut der «NZZ am Sonntag» mögliche Verjährungen. Es dürfte auch Rückweisungsanträge der Verteidigung geben, wegen ungenügender Akteneinsicht oder Vorbereitungszeit. Im Fall einer Abweisung beginnt die Einvernahme der Angeklagten.
Dies dürfte einige Zeit in Anspruch nehmen, wegen der schwierigen Materie und der happigen Vorwürfe. Immerhin fordert Staatsanwalt Marc Jean-Richard-dit-Bressel mit einer Ausnahme für alle Angeklagten mehrjährige Haftstrafen. Einer ist offenbar schwer krank und wird nicht am Prozess teilnehmen. In seinem Fall könnte das Verfahren eingestellt werden.
Nach der Einvernahme dürften bereits die Schlussplädoyers folgen, und die haben es in sich. Je aufwändiger ein Verfahren, umso länger reden in der Regel die Anwälte. Im konkreten Fall sollen sie nicht weniger als 39 Stunden Redezeit beantragt haben, berichtete das Portal «Inside Paradeplatz». Allein der Staatsanwalt wolle sieben Stunden plädieren.
Richter Sebastian Aeppli soll die Beteiligten deshalb aufgefordert haben, sich kurz zu fassen. So oder so aber werden die geplanten vier Prozesstage kaum ausreichen. Ein Zusatztag am 9. Februar ist bereits eingeplant, und weitere Reservetage werden offenbar gesucht, was angesichts der Zahl der Beteiligten (inklusive Privatkläger) nicht ganz einfach sein dürfte.
Die NZZ bezeichnet es als «Elefant im Raum»: Die Corona-Fallzahlen befinden sich derzeit auf einem Rekordniveau. Prompt ist einer der Mitbeschuldigten erkrankt und in Isolation, wie TeleZüri am Montag berichtete. Seine Befragung werde auf den 9. Februar verschoben, bestätigte das Bezirksgericht gegenüber der Agentur Keystone-SDA.
Der Prozess gegen die übrigen Beschuldigten soll am Dienstagmorgen trotzdem beginnen. Nicht zuletzt wegen der Pandemie wurde er ins Volkshaus verlegt. Falls einer der Richter, Staatsanwälte, Verteidiger oder Hauptbeschuldigten positiv getestet wird, muss der Prozess wohl verschoben werden.
Selbst wenn alle Hürden genommen werden, bleibt der Ausgang des Verfahrens offen. Wer etwa auf saftige Details zu Pierin Vincenz’ Spesenexzessen auf Firmenkosten – ein Lieblingsthema der Medien – hofft, könnte enttäuscht werden. Verteidiger Lorenz Erni will das Thema angeblich möglichst rasch vom Tisch haben, schreibt die «NZZ am Sonntag».
Demnach könnte sich der Ex-Banker wenigstens teilweise schuldig bekennen. Zum einen ist die Beweislage bei den Spesen ziemlich eindeutig, und zum anderen könnte er «mildernde Umstände» geltend machen. Alle Belege auch über die Ausgaben im Rotlichtmilieu wurden von Raiffeisen-Präsident Johannes Rüegg-Stürm abgesegnet.
Der schwierige Part sind ohnehin die Betrugsvorwürfe gegen Vincenz und Stocker wegen heimlicher Beteiligungen an vier Unternehmen, die von Raiffeisen und der Kredikartenfirma Aduno übernommen wurden. Die Frage lautet, ob die beiden Angeklagten dabei «arglistig» vorgegangen sind und ihre privat erzielten Gewinne hätten herausgeben müssen.
Die juristischen Hürden sind laut «NZZ am Sonntag» hoch, auch weil die genossenschaftlich organisierte Raiffeisen und Aduno (heute Viseca) nicht den gleich strenge Regeln bei der Unternehmensführung (Corporate Governance) unterstellt sind wie börsenkotierte Firmen. Ob – und wann – es allenfalls zu einem Schuldspruch kommt, ist deshalb offen.