Nächste Woche beginnt der grösste Schweizer Wirtschaftsprozess seit der juristischen Aufarbeitung der Swissair-Pleite vor 15 Jahren. Damals wurde die Verhandlung wegen des enormen Interesses in die Stadthalle Bülach verlegt. Schauplatz des Verfahrens gegen Pierin Vincenz und die Mitangeklagten vor dem Bezirksgericht Zürich ist das Volkshaus.
Die Wahl der Location illustriert die Dimension der beiden Fälle. Auch sonst gibt es Parallelen zwischen dem Swissair- und dem Raiffeisen-Prozess. Beide Male stand und steht ein charismatischer, machtbewusster CEO im Zentrum, der nach Ansicht der Staatsanwaltschaft seine Kompetenzen überschritten und sich strafbar gemacht hatte.
Die Hauptangeklagten in Zürich sind Pierin Vincenz und Beat Stocker, der ehemalige Chef der Kreditkartenfirma Aduno. Mit ihnen stehen fünf Personen vor Gericht, ihnen wird Gehilfenschaft unter anderem zu Betrug und Veruntreuung vorgeworfen. Ein weiterer Beschuldigter hat einen Strafbefehl über 100’000 Franken akzeptiert.
Der Aufwand der Staatsanwaltschaft war gigantisch. Zum Schluss hatte sie «einen Berg von 526 Bundesordnern plus 49 Kisten mit beschlagnahmten Material zusammengetragen», wie die «NZZ am Sonntag» schrieb. Darunter befänden sich «Abertausende von E-Mails, Chat-Nachrichten, Banktransaktionen, Rechnungen, Protokolle und Verträge».
Auf dem Höhepunkt seiner Karriere war Pierin Vincenz der wohl angesehenste Banker des Landes. Als Vorsitzender der Geschäftsleitung von 1999 bis 2015 hatte er Raiffeisen, einen Verbund regionaler Genossenschaftsbanken mit Zentrale in St.Gallen, zur Nummer 3 in der Schweiz gemacht und dabei vom Reputationsverlust der Grossbanken profitiert.
Mit seiner hemdsärmeligen und kumpelhaften Art verkörperte der heute 65-jährige Bündner eine gewisse Bodenständigkeit. Den Kontrast bildete sein aufwändiger Lebensstil mit Helikopterflügen und Villa im steuergünstigen Teufen (AR). Er passte kaum zur Bauern-, Gewerbler- und Mittelstandsbank, doch weil die Zahlen stimmten, blieb die Kritik leise.
Am 27. Februar 2018 kam es zum Eklat. Die Zürcher Staatsanwaltschaft leitete eine Strafuntersuchung wegen ungetreuer Geschäftsbesorgung ein und nahm Vincenz in Untersuchungshaft, in der er bis Mitte Juni verblieb. Auch Raiffeisen reichte Strafanzeige gegen den früheren Chef ein, im Prozess tritt die Bank als Privatklägerin auf.
Ein Teil der Anklage bezieht sich auf Vincenz’ Umgang mit seiner Firmenkreditkarte. Er verwendete sie gemäss Anklageschrift für private, «nicht geschäftsmässig begründete» Aktivitäten. Dazu gehörten Reisen mit seinen Töchtern oder mit Freunden zum Golfspiel, aber auch, und das ist der pikante Teil, für Besuche in Cabarets, Stripclubs und Kontaktbars.
Die 364-seitige Anklageschrift schildert die anzüglichste Episode: Im Juni 2014 verbrachte Vincenz im Luxushotel Park Hyatt eine Nacht mit einer «Tänzerin». Irgendwie artete das Tête-à-Tête aus. Am Ende standen ein zertrümmertes Hotelzimmer und eine Rechnung über knapp 3800 Franken, die der Bankenboss seinem Spesenkonto belastete.
Gesitteter verlief ein Nachtessen mit einem Tinder-Date rund ein Jahr später im Zürcher Hotel Storchen. Es kostete 700 Franken, ebenfalls zulasten von Raiffeisen. Ob im Prozess weitere Details zu diesen Episoden publik werden, wird sich zeigen. In den von der «NZZ am Sonntag» veröffentlichten Verhörprotokollen bezeichnete Vincenz sie als «Privatsache».
Den Schaden für Raiffeisen durch seine privaten Auslagen (darunter Anwaltsrechnungen) beziffert die Anklageschrift auf fast 600’000 Franken. Davon entfielen 200’000 Franken auf das Rotlichtmilieu. Allerdings wurden die Spesenbelege von Verwaltungsratspräsident Johannes Rüegg-Stürm visiert. Für Experten liegt hier eine mögliche Schwachstelle vor.
Der gewichtigere und für die Anklage anspruchsvollere Teil betrifft die Beschuldigung gegen Pierin Vincenz und Beat Stocker, sich bei der Übernahme der Firmen Commtrain, Genève Credit & Leasing (GCL) und Eurokaution durch Aduno sowie von Investnet durch Raiffeisen «nicht gebührende Vorteile» von über 24 Millionen Franken erschlichen zu haben.
Die Aduno-Gruppe (seit 2020 Viseca) ist ein Gemeinschaftsunternehmen von Schweizer Banken, mit Raiffeisen als grösster Aktionärin. Pierin Vincenz war Verwaltungsratspräsident und Beat Stocker CEO. Sie sollen Anteile an den vier besagten Firmen (sogenannte Schattenbeteiligungen) besessen und davon bei den Übernahmen profitiert haben.
Faktisch sassen sie auf beiden Seiten des Tisches und bedienten sich laut Anklage «arglistiger Machenschaften», indem sie ihre Beteiligungen geheim hielten. Unterstützt wurden sie von vier Mitangeklagten. Die Vorwürfe gegen Vincenz und Stocker betreffen gewerbsmässigen Betrug, Veruntreuung, Urkundenfälschung und unlauteren Wettbewerb.
Der 61-jährige Beat Stocker wurde in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, obwohl er wie Vincenz in Untersuchungshaft sass. Für die Staatsanwälte aber war der ehemalige Aduno-Chef mehr als ein Mitläufer. Er war aktiv in die «Machenschaften» involviert, und ihm wird – anders als Vincenz – der Verrat von Geschäftsgeheimnissen zur Last gelegt.
Die happigen Vorwürfe in der Anklageschrift werfen ein neues Licht auf das umfangreiche Interview, das Stocker der «NZZ am Sonntag» gab. Offensichtlich versuchte er, sich aus dem Schatten von Vincenz zu lösen und in ein besseres Licht zu rücken. So hinterfragte er etwa seine langjährige Freundschaft mit dem Ex–Raiffeisen-Chef.
Pierin Vincenz schulde ihm fast sechs Millionen Franken, sagte Stocker. Darunter befindet sich ein Darlehen für den Kauf einer Villa im Tessin. Eher bizarr wirkt seine Begründung für die vielen Besuche in Bars und Striplokalen. Es seien oftmals «die einzigen Orte, wo man spätabends noch Abendessen oder einen Drink nehmen kann nach einer Sitzung».
Der zuständige Staatsanwalt Marc Jean-Richard-dit-Bressel fordert für Vincenz und Stocker eine Freiheitsstrafe von je sechs Jahren. Für vier Mitangeklagte werden 2 bis 2,5 Jahre und in einem Fall eine Geldstrafe von 180’000 Franken beantragt. Ob es zu einer Verurteilung kommt, ist alles andere als sicher. Wirtschaftsdelikte sind häufig schwierig zu beweisen.
So stellt sich die Frage, ob Raiffeisen und Aduno durch die Übernahmen wirklich geschädigt wurden und ob Vincenz und Stocker verpflichtet gewesen wären, ihre dabei erzielten Gewinne rauszurücken. Das Dilemma bei den Spesen wurde geschildert. Für Wirtschaftsprofessor Peter V. Kunz ist der Ausgang des Verfahrens «völlig offen».
Der Swissair-Prozess von 2007 ist ein gutes Beispiel. Er endete für die Staatsanwaltschaft mit einer Blamage. Alle 19 Angeklagten, darunter illustre Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft, wurden freigesprochen und erhielten eine hohe Prozessentschädigung. Sie hätten unternehmerische Fehler begangen, aber keine Verbrechen, lautete die Begründung.
Die Verhandlung gegen Pierin Vincenz, Beat Stocker und die Mitangeklagten beginnt am Dienstag. Sie ist auf vier Tage angesetzt, die womöglich nicht ausreichen werden. Für die Angeklagten gilt die Unschuldsvermutung.
Salvatore_M
Soporpa